Kapitel 23 - Orland

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„Sie sind wirklich talentiert", bemerke ich, als sie nach dem letzten Buchstaben meine Füllfeder zur Seite legt. Sie reibt sich ihren verspannten Nacken, der wie immer durch einen hohen Kragen verborgen ist.

„Meinen Sie das ernst oder sagen Sie es nur so?", hakt sie nach. Ich ziehe meine Augenbraue hoch. „Wollen Sie wirklich mein Urteil anzweifeln? Wenn ich etwas sage, dann meine ich es so." „Gut, dann möchte ich dieses Kompliment gerne annehmen. Übrigens haben Sie sich die letzten Male beim Tanzen auch nicht so schlecht geschlagen."

Ich seufze. Das Tanzen macht mir inzwischen sogar Freude, doch ich merke, wie es mir jedes Mal schwerer fällt, wenn ich mit Annalies tanze statt mit Esther.
„Das ist nett, dass Sie das sagen. Doch ich fürchte, dass ich nie gut genug sein werde, um mich auch öffentlich aufs Parkett zu wagen." Esther erhebt sich von meinem Stuhl, damit sie mit mir auf Augenhöhe ist.

„Was Sie da von sich geben, ist absoluter Unsinn, wenn ich das mal so offen sagen darf. Oder was würden Sie sagen, wenn ich mich erst traute, Briefe zu schreiben, wenn ich eine Meisterin der Kalligraphie bin? Es geht doch nicht darum, in allem perfekt zu sein, sondern um gesellschaftliche Teilhabe. Beim Schreiben wie beim Tanzen geht es darum, sich ausdrücken zu können, in Kontakt mit anderen Menschen zu treten. Verbauen Sie sich diese Chance nicht selber, indem Sie denken, Sie müssten alles einwandfrei bringen. Kein Mensch wird je perfekt sein."

Ich schaue sie versonnen an und denke, dass einige Menschen sehr nahe daran sind, perfekt zu sein. „Sie haben einen sehr realistischen und doch liebenswürdigen Blick auf die Welt", bemerke ich. Sie lächelt leicht. „Auch etwas, das ich erst lernen musste."

„Wie meinen Sie das?", frage ich neugierig. Sie zuckt mit den Schultern. „Ich glaube, dass es Menschen gibt, die heranwachsen und von Anfang an wissen, wer sie sind und was sie von der Welt halten sollen. Und dann gibt es Menschen wie mich, die irgendwann in ihrem Leben an einen Punkt kommen, an dem sich die Sicht auf alles vollkommen verändert. Ob Sie es glauben oder nicht, ich bin vor gar nicht langer Zeit noch ein komplett anderer Mensch gewesen."

Ich kann ehrlich gesagt nicht glauben, dass sie jemals anders gewesen sein soll. Auf mich wirkt Esther so gefestigt und selbstbewusst, dass es so scheint, als hätte sie schon immer mit sich im Einklang gestanden. „Inwiefern anders?", hake ich nach. Sie schüttelt den Kopf. „Das ist Vergangenheit. Und die Vergangenheit ist vorbei. Übrigens wollte ich Sie fragen, ob ich für Annalies ein neues Kleid anfertigen lassen darf. Der Tanzabend bei den Kardens rückt näher und für solche Veranstaltungen ist sie nicht ausgestattet."

Ich nicke ohne zu zögern. „Selbstverständlich. Suchen Sie etwas Schönes aus und lassen Sie die Rechnung an mich schicken." „Dankeschön." Sie klingt erfreut. „Und vielen Dank für Ihre Mühe heute. Ich habe tatsächlich das Gefühl, dass ich es lernen könnte."

„Sie können es lernen", sage ich und bin mir meiner Worte absolut sicher. Esther schickt sich an, den Raum zu verlassen, doch ich halte sie zurück. „Eine Sache noch, Esther." Sie wendet sich mir zu. „Ja?"
Ich lächele etwas unsicher. „Sie kommen doch mit auf den Tanzabend der Kardens, oder? Ich habe das Gefühl, dass sowohl Annalies als auch ich es nötig haben, vor Peinlichkeiten bewahrt zu werden." Ihre Augen funkeln amüsiert. „Wenn Sie es wünschen, Orland, werde ich selbstverständlich auf Sie beide achtgeben."

***

Schneller als gedacht vergeht die Zeit bis zum Tanzabend. Es wird Dezember, es wird Advent und endgültig eisig kalt. Annalies zuliebe lasse ich Ernst das Haus mit Tannengrün, roten Schleifen und Kerzen verzieren und ihr glückliches Gesicht darüber zeigt mir, dass ich alles richtig gemacht habe. Ich möchte, dass meine Nichte wunderschöne Feiertage verlebt, dass sie sich geborgen und zuhause fühlt und das erste Mal in ihrem Leben ein richtiges Weihnachtsfest hat.

Ich denke an die letzten Jahre zurück und erinnere mich, wie einsam es doch gewesen ist ohne sie und Esther. Manchmal höre ich die beiden Weihnachtslieder singen und mein Herz geht dabei auf. Esther hat eine wunderschöne, klare Stimme, der ich ewig zuhören könnte.

Seit sie mit uns gemeinsam isst, ist die Atmosphäre bei Tisch viel gelöster. Trotz kleiner Ermahnungen an Annalies, dass sie gerade sitzen oder das Glas anders halten soll, wird sich viel mehr unterhalten und gelacht. Während ich früh in Ruhe meine Zeitung lesen kann und Esther für ihre Schülerin den Tagesplan erläutert, findet abends ein offenes Gespräch statt und jeder erzählt von seinen Erlebnissen.

Es fühlt sich an wie Familie. Meine Nichte ist fast wie eine Tochter für mich und ihre Gouvernante – nun ja, sie ist auf jeden Fall mehr als eine Angestellte.
Nach wie vor gebe ich Esther Unterricht. Und sie lernt rasant. Ich genieße die Stunden, in denen wir zu zweit sind, jeden Tag aufs Neue. Oft hole ich mir einen Rat von ihr, sowohl bezüglich Annalies, als auch teilweise geschäftlich. Ich merke, wie viel sie weiß, wie gut sie sich auskennt und ich frage mich, wie ich je wieder ohne sie auskommen soll. Doch diesen Gedanken schiebe ich jedes Mal beiseite. Es gibt genug Aufgaben für sie und da sie sich ganz offensichtlich wohlfühlt, gibt es keinen Grund, warum sie gehen wollen sollte.

Die GouvernanteWhere stories live. Discover now