Flirtversuche

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Manchmal steht man an einem Punkt in seinem Leben, an dem man sich denkt: Eigentlich wäre es doch schön mal wieder von jemandem angesprochen zu werden und auf ein Date zu gehen.
Doch da muss ich dich warnen. Sei vorsichtig mit der Formulierung deiner Wünsche! Denn sonst kann es passieren, dass dich plötzlich ein „Jemand" anspricht, dem du lieber nicht begegnet wärst. Und dann könntest du dich schneller als erwartet in einer Situation wie Milla wiederfinden an diesem einen, wirklich ganz gewöhnlichen Tag.

Sie kniete gerade am Boden und sortierte neues farbiges Haarspray ein. Von unten nach oben und nach Farben sortiert. Um sie herum standen und lagen Haufenweise Spraydosen herum. Da blieb auf einmal ein junger Asiate neben ihr stehen. Mit seinem Rucksack auf dem Rücken wirkte er wie ein Schüler. Er sah nicht einmal schlecht aus und kurz dachte sie sich schon, dass dies vielleicht eine interessante Begegnung werden könnte. Sie hatte im Gefühl, dass sich etwas Vielversprechendes anbahnte.

Er ergriff als erster die Initiative. „Was ist das?", fragte er interessiert.
„Das ist Haarspray", antwortete Milla, da es mehr auf diese Frage einfach nicht zu sagen gab.
„Wie Haarspray?", hakte er wenig geistreich nach.
„Du kannst es auf deine Haare sprühen, um deine Haarfarbe zu verändern", erklärte sie ihm nun schlicht.
Der junge Asiate nickte. „Ah okay."
Dann herrschte einen Moment Stille, in dem sich Milla wieder dem Sortieren widmete.

Ich muss erwähnen, dass sich direkt neben dem Haarspray die Waffenabteilung befand. Darum war es auch nicht verwunderlich als er plötzlich mit einem Hackebeil in der Hand wieder neben ihr stand. Zuerst dachte sie sich nichts dabei. Dann aber schwang er das Hackebeil hin und her, inspizierte es genau und meinte: „Wenn das echt wäre, dann könnte ich jemandem damit den Kopf abschlagen."
Milla runzelte die Stirn. Was?
Selten überkam sie Sprachlosigkeit, aber in diesem einen Moment wusste sie rein gar nicht, was sie sagen sollte. Vielleicht: Dann ist es ja gut, dass wir hier keine echten Hackebeile verkaufen? Sie überlegte noch wie sie aus dieser seltsamen Situation herauskommen könnte als unsere Chefin Jacina ihr unerwartet zu Hilfe kam. „Milla", rief sie. "kannst du bitte die Jungsabteilung aufräumen?"
Milla hasste es die Abteilungen aufzuräumen. Aber in diesem Moment war sie Jacina einfach nur unfassbar dankbar für diese Fluchtmöglichkeit. Während sie ohne zu zögern zur Jungsabteilung eilte, redete der Junge weiter und streichelte dabei das Hackebeil. Er hatte noch einiges zu lernen, wenn das soeben ein ernstgemeinter Flirtversuch gewesen war. Ansonsten würde er wohl sein Leben einsam und allein fristen müssen.

Eines unschuldigen, ruhigen Nachmittages passierte ein einschneidendes Erlebnis. Milla und ich arbeiteten gerade zu zweit in den Umkleidekabinen. Weil aber so wenig los war, bediente meistens nur die eine die Kunden, während die andere Kartons aufschlitzte, beschriftete, sortierte und so weiter. Ich saß soeben bei den Kartons als ein etwa 14- jähriger Junge vorbeikam, der aussah wie die Verkörperung des Klischees über US-amerikanische Jugendliche. Er war blond, dick und offensichtlich nicht der Hellste.

In seinem Arm trug er zwei Kostüme mit sich. Zum einen das Kostüm für einen reichen Proll und zum anderen das für einen Zuhälter. Da ihm letzteres nicht passte, wählte er den protzigen Reichen aus. Es beinhaltete einen langen rotglänzenden Morgenmantel und je nach Wunsch konnten die Kunden dann diverse Accessoires hinzukaufen wie Sonnenbrille oder Goldkette.
Die Probleme begannen bereits als der Junge nun den roten Morgenmantel anziehen wollte. Er verstand nämlich nicht wie er das bewerkstelligen sollte. Er meine, er wüsste nicht wie er den Morgenmantel halten müsse, während er ihn anzieht. Und es sei ihm auch ein Rätsel wie er den Gürtel binden müsse. Außerdem wolle er sich beim Umziehen doch bitte hinsetzen. „Habt ihr einen Stuhl?", fragte er.
Milla war gerade an der Reihe die Kunden zu bedienen, darum war sie es, die ihm antwortete. "Ne, sorry."
Doch da sah der Junge die Klappleiter, welche hinter Milla stand. Er deutete darauf und fragte: „Kann ich mich auf die setzen?"
Milla nickte langsam. „Ja, klar."
Dann konnte er endlich damit beginnen sein kompliziertes Kostüm anzuprobieren. Zum Glück waren außer ihm keine weiteren Kunden da, um die wir uns kümmern mussten.

Ich hatte durchaus Mitleid mit meiner Freundin, aber mein Selbsterhaltungstrieb war größer. Darum leistete ich ihr keinen Beistand, sondern blieb mit konzentriertem Blick bei meinen Kartons sitzen und tat so als wäre es unfassbar wichtig diese genau jetzt zu zerschneiden.
Der Vater des jungen Klöpschens, bei dem es sich zu 100 Prozent nicht um dessen leiblichen Vater handelte, weil er ein schlanker Inder war, beugte sich irgendwann zu Milla. "Es tut mir leid", flüsterte er ihr zu. "Aber wissen Sie, mein Sohn verhält sich so nur, weil er eine Behinderung hat. Er ist leider etwas zurückgeblieben." Dann lächelte er ein bisschen. „Aber er ist ein guter Junge. "
" Ich bin mir sicher, er hat das Herz am rechten Fleck", antwortete Milla dem netten Mann aus Mitleid. Er schaute sie sehr dankbar an. Der nette Mann war diese Lüge wert.

Milla und ich wechselten immer mal wieder ein paar Sätze auf Deutsch, in denen wir uns darüber unterhielten, dass die männliche Diva wirklich nicht ihr T-Shirt hätte ausziehen müssen, um den am Bauch spannenden Morgenmantel anzuprobieren. Das führte dazu, dass er Milla irgendwann fragte, welche Sprache sie mit mir spreche.
„Deutsch", antwortete sie einsilbig.
"Aha", meinte er. Anschließend beugte er sich lässig vor, stelle Augenkontakt her und wollte ihren Namen wissen. Trotz des fetten orangenen Namensschildes direkt auf ihrer Brust. Sie antwortete ihm dennoch. Kundenservice wird bei uns immerhin groß geschrieben.
„Möchtest du das Kostüm kaufen?", fragte sie ihn schließlich. Ja, er wollte den Mantel kaufen. "Aber nicht jetzt. Ich schicke morgen jemanden, der den Mantel abholt", erklärte er todernst. "Mein Freund ist groß und sieht bedrohlich aus, was daran liegt, dass er Underground Rapper ist, aber eigentlich ist er voll lieb. Und er ist halt nicht so mainstream beliebt, aber dafür im Underground. Da wird er richtig gefeiert und verdient mega das Geld. Und er ist so etwas wie mein Laufbursche. Also erschreck dich nicht, wenn er morgen hier auftaucht. " Der Vater versuchte den Redeschwall seines Sohnes zu unterbrechen: „Komm jetzt..." Doch dieser wehrte sich wütend." Hey, lass mich verdammt noch mal in Ruhe!", schrie er und drehte sich wieder Milla zu. "Vielleicht werde ich auch bald Undergroundrapper sein", fuhr er fort, während der Vater ihn nun am Arm packte und mit sich zog. Er warf Milla zum hundertsten Mal ein entschuldigendes Lächeln zu.
Nun ließ sich der Junge zwar von seinem Vater in Richtung Ausgang drängen, drehte sich jedoch alle paar Schritte um und versorgte Milla mit weiteren Details über seinen Rapperfreund. Der definitiv nur in dessen Kopf existierte. Aber vielleicht besser als würde gar nicht existieren oder nicht?

Ein paar Tage später erschien er erneut in unserem Geschäft. Milla erkannte ihn bereits aus dem Augenwinkel und sah, dass er stehen geblieben war, sobald er sie entdeckt hatte. Doch sie ignorierte ihn stoisch. Es war ein Moment wie im Film: Zwei Personen treffen sich nach langer Zeit wieder, starren sich für mehrere Sekunden einfach nur an und plötzlich bleibt die Zeit stehen. Allerdings hatte nur er diesen Moment. Wie in Zeitlupe ging er an ihr vorüber, die Augen nicht von ihr lösend, während sie konzentriert weiter arbeitete, panisch betend, dass er einfach vorbei gehen möge. Er ging vorbei. Und ward nie wieder gesehen. Und wenn er nicht gestorben ist, dann delegiert er seine Rapper-Meute noch heute...

Unsere Zeit bei Spirit Halloween neigte sich nun dem Ende zu. Halloween war vorüber und da wir bloß ein saisonaler Pop-up Store waren, blieben uns nach dem 31. Oktober nur noch ein paar Tage, um den Laden abzubauen. Unsere Miete lief passend dazu Anfang November aus. Problematisch war allerdings, wo wir als nächstes unterkommen würden und als wir nur wenige Tage vor Ende unserer Mietzeit von unserer Chefin Jacina gefragt wurden, wo wir denn als nächstes hinziehen würden, konnten wir immer noch keinen Ort nennen. Sie sah uns mitleidig an. „Also, wenn es hart auf hart kommt", meinte sie, „dann habe ich immer noch leere Kartons hinten bei den Umkleidekabinen, die ich euch anbieten kann."
Danke! Besser als nichts, würde ich sagen. Aber glücklicherweise war das nicht nötig und wir fanden in letzter Minute eine Unterkunft. Zuerst freuten wir uns sehr darauf. Später verflog diese Freude Stück für Stück. Aber das ist eine andere Geschichte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: May 04, 2021 ⏰

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