September: im Ausnahmezustand

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Das Leben in unserer zweiten Wohnung war ein schwieriger, aber zugleich auch von interessanten Erfahrungen geprägter Abschnitt.
Die hygienischen Verhältnisse forderten uns auf besondere Weise heraus. Sie glichen in etwa denen einer renovierungsbedürftigen vier Zimmerwohnung, in der eine Alleinerziehende mit fünf Kindern lebt, deren Alltag mittags auf RTL ausgestrahlt wird. Angenommen diese Familie spielt tatsächlich in einer Tv-Serie mit. Dort zeigen sie zu Beginn die messihafte Wohnung. Im Verlauf der Sendezeit gestalten sie diese dann komplett um und schließlich werden schicke, herzerwärmende Nachher-Aufnahmen gezeigt. Unsere Situation glich jener der RTL-Familie bis auf den feinen Unterschied, dass nie gute Feen aufkreuzten und es darum nur die „Vorher"-Aufnahmen gab.

Aber das war schon okay. Das Küchenwaschbecken lief zwar regelmäßig mit bläulichem, aus dem Abfluss hervorsprudelnden Wasser voll. Aber es kam nie zur Überschwemmung und nach ein paar Minuten gluckerte es gleich wieder in den Abfluss zurück.
Man muss die Vorteile darin sehen: Unser Geschirr in der Spüle bekam somit immer extra Waschgänge.

Die Küche war ein Bildnis des Überflusses und der Tristesse zugleich. So quoll zwar aus jeder Schublade der Inhalt nur so hervor: Töpfe, Besteck, Glasbehälter, Metallbehälter, Hartplastikbehälter, Weichplastikbehälter, Trinkflaschen, Haushaltsgummis, Essstäbchen in nicht zusammenpassender Dicke und Farbe, eine aufgerissene Packung Plastikbesteck, ein kaputter Dosenöffner, ein kaputter Gemüseschäler und was sonst noch zu schade ist, um es in die Mülltonne zu werfen. Außerdem Unmengen an abgelaufenen und noch nicht abgelaufenen Gewürzen und Tees. Meistens verfehlte der menschliche Überlebensinstinkt nicht und erkannte die noch genießbaren Lebensmittel.
Manchmal waren unsere Reize allerdings überflutet und schlugen nicht Alarm.
Sonst hätten wir niemals die Teedose geöffnet. In unserer Teelust störten wir nämlich eine friedliche Familie von Maden, die wohl schon seit mehreren Generationen ein gemütliches zu Hause in der Dose gefunden hatte.

Leider konnte auch mit üblichen Putzutensilien wie Geschirrtüchern und Spülschwämmen kein Sauberkeitsniveau erreicht werden, das von der Weltgesundheitsbehörde abgesegnet worden wäre.
Das lag zum einen an der Tatsache, dass sich der einzige Spülschwamm nach mehrwöchiger Nutzung zunehmend in seine Bestandteile aufzulösen begann und darum geschont werden musste.
Zum anderen gab es ausschließlich ein einziges Geschirrtuch, das selbst nach einem Waschgang in der Waschmaschine immer noch einen seltsam fremdartigen Geruch verbreitete.
Aber das war schon in Ordnung, wir vermieden es einfach unsere Gläser von innen abzutrocknen und versuchten auch sonst möglichst aufs Lufttrocknen zu bauen.

Außerdem gab es zwar keine Zentralheizung, aber sobald wir dieses Problem ansprachen durften wir uns die kleine mobile Heizung mit den anderen drei Mitbewohnern teilen. Nachdem das Zimmer einmal aufgeheizt war, beschlossen wir die Fenster nicht mehr zu öffnen und schon blieb die Wärme im Raum, man muss praktisch denken.

Unser Problemlösungdenken wurde in dieser Zeit ebenfalls geschult. Da unsere Vermieterin nicht damit rechnete, dass fünf Personen in ihrer Wohnung auf eine gewisse Menge Toilettenpapier angewiesen sind, insbesondere wenn es sich um hauchdünnes Öko-Toilettenpapier handelt, lebten wir ständig im akuten Notstand.
Ratschläge der Vermieterin wie: „benutzt einfach die Küchenrolle" waren nur zu Beginn nützlich, da es bald keine Küchenrolle mehr gab.

Wir lernten rasch, dass der Mensch ein wirklich anpassungsfähiges Wesen ist. Nach einigen Tagen hatten wir uns nämlich an die Widrigkeiten gewöhnt und nicht einmal die schimmelnden Nudeln im Kühlschrank riefen mehr ein überdurchschnittliches Übelkeitsgefühl hervor. Wir drehten sie alle paar Tage ein Stück, um den Schimmel nicht sehen zu müssen.

Viel schwieriger zu ertragen als das Hygieneproblem war die Beziehung zwischen zwei unserer Mitbewohnern. Wir tauften sie liebevoll Jolanda und Thorsten.
Immerhin wollten wir in der Lage sein in ihrer Gegenwart auf Deutsch über sie sprechen zu können und dennoch Anonymität zu wahren. Wir sind schon praktisch denkende Menschen.

Jolanda und Thorsten lebten in einem der vier Zimmer und wurden von einer sehr ambivalenten Liebesbeziehung verbunden. Morgens rauschte Jolanda in die Wohnung hinein, murrte schlecht gelaunt und rauschte wieder zur Wohnung hinaus. Wohin sie immer ging? Wir wissen es nicht.
Thorsten eilte jedes Mal zur Tür und begrüßte sie , bekam eine halbe Minute zum Austausch von Zärtlichkeiten gewidmet, wartete dann vor dem Badezimmer oder im gemeinsamen Zimmer und brachte Jolanda nach ihrer Dusche wieder zur Tür.

Thorsten verließ nie die Wohnung. Das stimmt nicht, einmal haben wir ihn nach draußen gehen sehen und ein weiteres Mal bekamen wir mit wie Jolanda sich tierisch aufregte und wütend herumtelefonierte, weil er sich nicht im Appartement befand als sie nach Hause kam.
Abends pflegte Jolanda ins Appartement zu stürmen, eine Begrüßung zu murmeln und sich mit Thorsten in ihrem Zimmer einzusperren. Wir hörten sie dann manchmal wie sie mit ihm redete und ihn mit Liebkosungen überschüttete. Nach ein paar Stunden hörten wir sie dann meistens hektisch die Wohnung verlassen und davonfahren. Oftmals kam sie erst am Morgen wieder nach Hause, um unter die Dusche zu gehen und dann wieder davon zu stürzen. Wir hörten Thorsten nicht nur einmal nachts weinen.

Es steht uns wirklich nicht zu Urteile auszusprechen, aber diese Beziehung war toxisch.
Wir versuchten mit Thorsten zu sprechen und sagten offen heraus, dass wir ihn lieber auf unserer Reise mitnehmen würden als ihn hier in dieser Wohnung mit Jolanda zu wissen. Aber es half nichts. Er gehörte ganz ihr, er war abhängig von ihrer seltenen Liebe.

Durch die beiden wurde unser Herz täglich auf eine Zerreisprobe gestellt, es schmerzte dieses ungesunde Abhängigkeitsverhältnis tagtäglich mitansehen zu müssen. An unserem letzten Tag versicherten wir Thorsten zum wiederholten Male, dass wir ihn wirklich zu gerne mitgenommen hätten und dass er von Jolanda loskommen müsse.
Seufzend und mitleidig streichelten wir ihm noch einmal übers schwarze Fell und dachten an all die Tage, an denen wir ihm von unseren Mahlzeiten abgegeben hatten, weil Jolanda zu beschäftigt gewesen war, um an sein Futter zu denken. Er schnurrte, denn er mochte meine Reisebegleiterin wirklich sehr gerne und sie wusste genau, wo er am liebsten gekrault wurde, dann verließen wir ihn und die Wohnung.
Ein bisschen nagte das schlechte Gewissen schon an uns, weil es ein so befreiendes Gefühl war diese Wohnungstür zu schließen und Thorsten hinter uns zu lassen. Aber man kann schließlich auch nicht allen helfen, oder nicht?

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