Die Krähenlady

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„Mein Hobby ist ein Geschenk. Eine Gabe. Denn alles, was ich tue ist, ich halte die Schere ans Papier. Die Linien, die ich dann vor mir sehe und entlangschneide, kommen ohne Nachzudenken ganz von selbst."

Als Debby, meine Kollegin bei Spirit Halloween, diese Worte so ganz nebenbei in der Mittagspause aussprach, da wusste ich, diese Frau ist absolut einzigartig. Sie ist so ungewöhnlich, dass ihre Beschreibung unmöglich in ein paar Sätze zu packen ist.

Ich denke, bevor ich sie dir näher vorstelle, sollest du dir am besten ein Bild von ihr machen. Darum erst einmal zu ihrem Aussehen: Obwohl Debby bereits etwas über 60 Jahre alt ist, sieht sie nicht aus wie die meisten Frauen ihres Alters. Ihr tintenblaues Haar mit den glitzernden Strähnen fällt ihr bis auf den Rücken und auf der Nase trägt sie eine geschwungene Brille mit getönten Gläsern. Ihre Unterlippe ziert ein ringförmiger Piercing.

Sie erzählt gerne Geschichten. Auch während der Arbeit fand sie stets Zeit und Gelegenheit dazu. Besonders gerne erzählt sie solche, die von ihrem Enkel Stone oder von ihrer 15-jährigen Karriere als Schneiderin beim Film handeln.
Ein weiteres Lieblingsthema sind die ausgefallenen Frisuren, in welchen sie ihr Haar bereits getragen hat. Etwa die knielangen schwarzen Extensions in Kombination mit dem feuerroten Pony.
Leider fand sie in ihrem Fotoalbum kein Bild auf dem die Frisur deutlich zu erkennen ist, als sie sie uns bei einem Besuch in ihrer winzigen Wohnung beschrieb.

Ihre große Leidenschaft, nun, die kann ich nicht einfach so beim Namen nennen, da muss ich dich schon Schritt für Schritt heranführen. Wie du ja bereits weißt, ist Debby keine gewöhnliche Person. Darum kann sie natürlich auch kein gewöhnliches Hobby haben wie Tennisspielen, Kuchenbacken oder dergleichen. Nein, Debby schneidet. Sie schneidet Schneeflocken aus weißem Papier und das ist mehr als nur irgendeine Freizeitbeschäftigung. „Ich glaube, dass es ein Geschenk ist", erklärte sie mir eines Tages in der Mittagspause mit ernster Stimme. Wir saßen beide auf Klappstühlen nebeneinander in dem winzigen Räumchen. Mehr Menschen hätten hier auch gar nicht reingepasst. „Denn alles, was ich tue ist, ich halte die Schere ans Papier. Die Linien, die ich dann vor mir sehe und entlangschneide, kommen ohne Nachzudenken ganz von selbst. Und jede Schneeflocke ist anders, keine ist gleich, keine einzige."

Debby ehrt dieses Geschenk, diese Gabe. „Ich schneide nur im Winter. Von Oktober bis März." In dieser Zeit entstehen etwa 200 der hübschesten Papierschneeflocken, die du je in deinem Leben zu Gesicht bekommen wirst. Und ja, sie sind tatsächlich alle einzigartig. Wir wissen das, weil sie uns ihre Sammlung gezeigt hat. Eines Nachmittages als wir sie zu Hause in ihrer gemütlichen Wohnung besucht haben. Wir durften uns sogar welche ihrer Schneeflocken aussuchen.

Was sie außerdem ausmacht, ist ihre starke Liebe zu Kindern. Oft stand sie beim Eingang des Ladens, dort, wo sich auch die unheimlichen Animatronics befanden. Wenn eine Familie mit kleinen Kindern eintrat, wies sie ihr einen Weg, der nicht an den Gruselpuppen vorbeiführte. Allerdings gab es auch Eltern, die es lustig fanden, wenn sich ihr Kind erschreckte, zu Schreien und zu Heulen anfing. Dann wollte man Debby nicht begegnen. In einer solchen Situation verwandelte sie sich nämlich in eine Löwenmutter, die nicht davor zurück schreckte den Leuten klar und deutlich ihre Meinung zu sagen.
Debby hat ein gutes Herz. Und das obwohl sie in ihrem Leben bereits die schwierigsten Hürden überwinden musste. Solche, die vielen Menschen erspart bleiben und andere in die Knie zwingen. Dennoch ist sie eine fröhliche und positive Person.

Was sie wiederum mit anderen älteren Personen teilt, ist die Angewohnheit sich des Öfteren zu wiederholen. Egal, ob es sich dabei um Lebensgeschichten oder um Redewendungen handelt. Da sie gerne lustige Erlebnisse schildert, hörten wir sie oft ihre eigenen Stories mit dem Satz kommentieren: „it's so funny! It cracks me up!" Aber auch andere Phrasen tauchten immer wieder in ihrem alltäglichen Sprachgebrauch auf. Beim Aufräumen des großen Maskenregals seufzend: „It's like Tetris. But nobody wins."

Beim Sortieren der Massen an Kostümen, die Kunden in den Umkleidekabinen anprobiert, aber dann abgelehnt haben: „It's like Tetris. But nobody wins."

Beim Neusortieren der Perücken schulterzuckend: „It's like Tetris..."-ich denke, du verstehst, worauf ich hinaus will.

Ihre natürliche Abneigung empfindet sie - typischerweise- gegenüber jungen Leuten mit Smartphones. Gerne beschwerte sie sich bei uns über deren Verhalten. Ungeachtet der Tatsache, dass wir selbst genau das sind: junge Leute mit Smartphones. Aber vielleicht hat sie mehr Vertrauen in uns beide und unseren Handykonsum als in andere Jugendliche. Danke, Debby!

Debby hat zwei Familien. Zum einen ist da ihr Enkelsohn, von dem sie die lustigsten und schönsten Geschichten erzählt. Zum anderen ist da ihre große Krähengemeinschaft. Täglich füttert sie die schwarzen Vögel, die bei ihr in der Straße leben. Sie wirft ihnen Mandeln zu, da die nicht nur lecker, sondern auch gesund sind.
Im Verlauf der Jahre hat sie die Tiere konditioniert wie Iwan Pawlow damals seinen berühmten Hund. Jedes Mal, wenn sie mit der Zunge ein klickendes Geräusch erzeugte, schmiss sie eine Mandel. Das wiederholte sie täglich und auch heute macht sie es noch so. Das führt dazu, dass die Krähen schon dann zu ihr kommen, wenn sie ausschließlich klickende Geräusche von sich gibt.

Wir haben sie zwei Mal begleitet bei ihren Fütterungen. So gingen wir zu dritt die herbstliche Straße in Vancouver herauf und hinab, klickten mit der Zunge und fütterten Krähen mit Mandeln.
Die Vorübergehenden warfen uns seltsame Blicke zu. Die meisten machten einen Bogen um uns und um die Vögel.
Debby erzählte uns, dass die Krähen ihr manchmal folgen, wenn sie zum Bus geht. Die anderen Menschen gehen ihr dann aus dem Weg, sie haben oft Angst vor all den Vögeln. Sie hat auch Angst. Aber davor, dass die Krähen überfahren werden könnten.
Darum versucht sie sie zu verscheuchen, wenn sie zur Hauptstraße geht, dort, wo die Haltestelle sich befindet.

Mit ihrem Verhalten ist sie so auffällig, dass sie von den Leuten sogar bereits einen eigenen Namen bekommen hat. Die nennen sie die verrückte Krähenlady.

Nie habe ich so viele interessante Informationen über Krähen erfahren. Mir war auch nicht bewusst, dass sie ein für Tiere komplexes Sozialleben haben und derart intelligent sind. So haben haben Krähen etwa ein ausgeprägtes Lernverhalten. Sie nutzen oftmals den Straßenverkehr zum Knacken von Nüssen und verstecken ihre Nahrung in der Regel nur, wenn sie nicht dabei beobachtet werden.
Sie können sich wohl auch Gesichter merken.
Debby erzählte uns in diesem Zusammenhang von einem interessanten Experiment, bei dem Menschen mit Masken die Krähen eines Parkes erschreckten und jagten. Nach einiger Zeit konnte eine Veränderung im Verhalten der Krähen festgestellt werden, wenn die maskierten Personen das Territorium betraten. Selbst, wenn sie sich ruhig verhielten und den Tieren nichts zu leide taten, flohen diese allein bei ihrem Anblick. Dieses gelernte Verhalten wurde sogar genetisch an die nachkommende Generation weitergegeben, sodass diese Tiere beim Anblick der Maskierten automatisch flohen.
Debby liebt diese Vögelso sehr, dass sie sich in naher Zukunft eine Krähe als Tattoo auf die Schulter stechen lassen will.

Überhaupt ist Debby eine jung gebliebene Frau. An Wochenenden geht sie gerne Tanzen und Konzertbesuche gehören zu ihrem Leben so wie Arbeiten und Schneeflocken ausschneiden.
Davon lässt sie sich auch nicht durch Zeichen des Älterwerdens, wie zum Beispiel Rückenschmerzen, abhalten.

Sie ist so liebenswert und absolut inspirierend. Wir haben mit ihr eine wunderbare Freundin dazu gewonnen.

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