September: Marcos Wohnung

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Der Taxifahrer setzte uns vor der neuen Wohnung ab und als wir eintraten, blieb uns erst einmal der Mund offen stehen.

Vor uns erstreckte sich eine breite, geschwungene Treppe in den ersten Stock. Außerdem hing ein riesiger, pompöser Kronleuchter von der hohen Decke herab. Einen solchen hatte ich zuletzt bei einer Schlossführung gesehen. Das Wohnzimmer zu unserer rechten besaß zwei Glasfronten in Richtung Straße, wodurch der Raum vollständig lichtdurchflutetet wurde. An der Wand genau gegenüber von mir sah ich einen weißen Kamin und rechts daneben schmiegte sich ein schwarzes Ledersofa an die Wand.
Nachdem wir unsere Augen von dem luxeriösen Anblick losreißen konnten, schleppten wir keuchend den schweren Koffer die geschwungenen Treppen hinauf bis zu unserem Zimmer im zweiten Stock. "Puh. Was hast du eigentlich alles eingepackt, Milla? Deine Juwelen?", scherzte ich halb im Spaß, halb ernst. Was könnte sich Anderes in diesem Koffer befinden, als ein Familienschatz? Oben angekommen musste ich mir erst einmal eine Verschnaufpause gönnen und meinen Rücken durchstrecken. Dann streckte ich die Hand nach dem goldenen Türknauf aus und öffnete die weiße Holztür.

Als erstes fiel mir sofort ein großes, weiches King Size Bett ins Auge, auf welches wir uns ohne Umschweife fallen ließen. Die weiche Metratze und die kuschelige Decke empfingen uns auch sogleich wohlwollend. Herrlich. Zu meiner Rechten befand sich ein großer Wandschrank. Gleich daneben lag unser eigenes Badezimmer mit sowohl Badewanne, als auch Dusche. Wenn ich den Kopf ein wenig aus den Kissen hob, konnte ich die hohen Glastüren sehen, die auf unseren privaten  Balkon hinausführten.

Schnell stellten wir fest, dass wir zudem die einzigen Bewohner des Hauses waren, obwohl es noch vier weitere Zimmer mit jeweils zugehörigem Badezimmer gab. Alle fanden wir leer und bewohnerlos vor.
Das klingt zu gut um wahr zu sein? Ganz recht. Denn der hollywoodähnliche Traum entpuppte sich schnell als ganz und gar wenig glamourös. Dies zeigte sich allerdings erst nach und nach.

Zu Beginn schwebten wir noch im siebten Himmel. Am ersten Tag erreichte uns jedoch die Nachricht des Vermieters, den wir nur unter dem Namen „Marco" kannten, dass wir unter keinen Umständen die sehr große, mit Massagedüsen ausgestattete Badewanne benutzen sollten. In der ursprünglichen Wohnung sei diese das Problem für den Wasserschaden gewesen. Das war natürlich schade. In meinem ganzen Leben habe ich nie in einer solchen Badewanne gebadet und hätte die Erfahrung gerne nachgeholt. Aber immerhin sparten wir so eine Menge Wasser, bestimmt eine halbe Tonne. Die Umwelt freute sich.
Auf der anderen Seite war die Untauglichkeit der Badewanne nicht wirklich ein Verlust. Sie erfüllte nämlich auch ohne ihre Badefunktion einen einwandfreien Dienst. Und zwar als Ersatzwäscheständer.
Das ist kein Witz. Immerhin benutzen Kanadier, so wie alle Amerikaner, klischeeweise gerne ihre Trockner, weshalb so etwas wie Wäscheständer in ihren Häusern selten zu finden sind. Wer könnte aber von uns deutschen Seelen erwarten ihr angeborenes Misstrauen zu überwinden und genug Vertrauen aufzubringen, um den Trockenmaschinen jegliche Art von Kleidung zu überlassen? Ich meine, Jeanshosen und Spitzenunterwäsche in den Trockner stecken? Alleine der Gedanke daran machte mich nervös.

Somit nutzten wir jeden verfügbaren Platz in unserem Zimmer, um ihn mit nassen, frisch gewaschenen Kleidungsstücken zu behängen. Jeans über Sitzfläche und Lehne des Stuhls, Leggins auf dem Tisch, T-Shirts über den Schranktüren und Unterwäsche überm Rand der gigantisch großen Badewanne natürlich. Sie bot derart viele Möglichkeiten zum Aufhängen der Wäsche, wir träumen bis heute davon. In keiner der folgenden Airbnb Wohnungen sollten wir je wieder derart viel Platz bekommen, um unsere Wäsche aufzuhängen.
An dieser Stelle möchten wir uns noch einmal ausdrücklich bei dem Einrichtungsstück bedanken, das wir aufgrund unseres Deutschseins leider zweckentfremden mussten. Es hat uns stets bereitwillig und großzügig hervorragende Dienste geleistet.

Der erste Tag in Vancouver ging schnell zu Ende. Nachdem wir uns beim Betreten des Zimmers ins Bett geworfen hatten, bewegten wir uns praktisch nicht mehr davon weg und gönnten unserem desorientierten, müden Hirn eine Kappe Schlaf. Ein wunderschönes Gefühl sich nach Stunden des Stehens und Sitzens endlich auf einer Matratze ausstrecken zu können. Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal derart ausgelaugt gefühlt hatte. Vermutlich während der Lernphase fürs Abitur.

Als wir an unserem ersten Morgen in Vancouver aufwachten, nahmen wir sogleich mehrere Dinge wahr. Zum einen war das die Dunkelheit vor dem Fenster, weil es gerade einmal fünf Uhr in der Früh war und wir keinen Schlaf mehr fanden. Jetlag ließ grüßen.
Zum anderen war das die extreme Zeitverschiebung. Vancouver liegt nämlich ganze neun Stunden hinter Deutschland. Wenn wir aufwachten und auf Social Media gingen, hatten die Menschen zu Hause ihren Tag bereits zum Großteil erlebt. Das irritierte uns zu Beginn sehr. Wie konnte es hier gerade erst früh am Morgen sein, wenn sich das Leben der Leute bei mir zu Hause, welches in meinen Gedanken noch immer auch mein Leben war, schon an einem ganz anderen Punkt der Tagesordnung befand? Ich hatte das Gefühl etwas verpasst zu haben.
Und drittens war es Mangengrummeln. Seit dem kleinen Mittagessen im Flugzeug am Vortag hatten wir nämlich nichts mehr gegessen. Und ich bin wirklich keine Person, die Diäten gewöhnt ist. Ganz und gar nicht. Also ließen wir Google Maps einen Supermarkt in unserer Nähe heraussuchen. „88" klang in unseren Augen nach einer gängigen kanadischen Supermarktkette und so begaben wir uns auf die Nahrungsjagd.

Wir meisterten die anfänglichen Schwierigkeiten, nämlich das Busfahren, mehr schlecht als recht. Beim Ticketkauf lernten wir, dass hier ausschließlich Münzgeld vom Busfahrer entgegen genommen wird. Möglicherweise weil man sein Ticket nur passend bezahlen kann. Man bekommt kein Rückgeld. Ob das der wahre Grund ist, weiß ich nicht, es ist nur der einzige, der mir eingefallen ist.
Da wir in diesem Land jedoch noch nichts gekauft hatten, besaßen wir noch kein Kleingeld. Darum entschieden wir uns dazu mit Karte zu zahlen. Weil die Kreditkarte meiner Freundin jedoch nicht angenommen wurde, wollte ich für uns beide zahlen. Weil mit ein und derselben Kreditkarte jedoch nur ein einziges Ticket erwerbbar ist, konnten wir für sie keines bekommen. Der Busfahrer drückte dann zum Glück ein Auge zu.
Somit erreichten wir den Supermarkt schließlich. Hoffnungsvoll betraten wir ihn und überrascht schauten wir uns dann im Inneren um. Wir befanden uns in einem asiatischen Supermarkt und jeder einzige Kunde war asiatischer Herkunft. Kein Grund sich verunsichern zu lassen, sagte ich mir. Überall im Laden standen die Dinge neben Englisch auch in Schriftzeichen, die für mein ungeübtes Auge nach chinesischen aussahen. Trotz des Gefühls völlig fehl am Platz zu sein und der riesigen Auswahl an fremdartigen Produkten, fanden wir die nötigsten Lebensmittel, zahlten und gelangten nicht viel später problemlos wieder in unserer Wohnung an.

Doch der Tag war noch nicht vorbei und ebenso wenig waren alle Herausforderungen des Tages gemeistert. Gegen Abend bemerkten wir nämlich, dass zwar Teller und Gläser in den Küchenschränken standen, Besteck aber nicht vorhanden war.
Das führte dazu, dass wir unseren Vermieter Marco kennenlernten.
Marco war ein hübscher, junger Asiate, der das Mysterium um seine Person zu lieben schien.
Nur etwa dreißig Minuten nachdem ich unsere Nachricht über das fehlende Besteck abgeschickt hatte, stand er in unserem Hausflur. In der einen Hand sein Smartphone, in der anderen Hand eine Tüte mit den Küchenutensilien. Noch ehe wir uns vorstellen konnten, drückte er uns grußlos die Sachen in die Hand und verschwand ohne den geringsten Smalltalk auch gleich wieder. Die gesamte Begegnung dauerte etwa 20 Sekunden. Ich blieb perplex im Hausflur zurück und starrte die geschlossene Tür an.

Unerwarteter Weise trafen wir Marco ein zweites Mal. Eine Woche später kündigte er uns nämlich per SMS an, dass zwei neue Mitbewohner bei uns einziehen würden. Nicht lange nachdem wir die Nachricht erhalten hatten, hörten wir dann Schritte im Haus und gingen davon aus, dass es sich um unsere neuen Zimmernachbarn handeln müsste. Doch die Schritte betraten keines der Zimmer im ersten Stock, sondern kamen die Treppe hinauf und klopften an unserer Tür. Wir warfen einander fragende Blicke zu. "Vielleicht haben sie sich im Zimmer vertan", spekulierte ich. Als wir öffneten waren wir zunächst überrascht. Uns stand Marco gegenüber. Obwohl er wissen musste, in welchem Zimmer wir wohnten, erschrak er fürchterlich sobald er von seinem Smartphone aufsah und uns erblickte. Mit großen Augen starrte er uns an als wären wir Geister. Dann entschuldigte er sich schnell mehrfach, während er schon wieder den Rückzug antrat ohne uns die Möglichkeit zu bieten etwas zu erwidern. Somit sind wir in Marcos Gegenwart jedes Mal sprachlos gewesen. Marco selber haben wir immer nur in Eile gesehen. Und mit Smartphone in der Hand.

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