September: Spirit Halloween

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Es gibt Dinge ohne die kann man nicht leben. Man braucht sie wie Essen und Trinken oder die Luft zum Atmen. Eines dieser Dinge ist Geld. Sorry, das ist nicht romantisch, aber es ist eben die Wahrheit. Insbesondere, wenn man sich in Kanada Schokolade kaufen möchte. Die lebenswichtig ist! Ohne Frage! Und mindestens doppelt so teuer wie in Deutschland. Aus diesem existentiellen Grund begaben wir uns auf Jobsuche.

Die zweite Bewerbung gaben wir in einem Halloweenshop nahe der Broadway City Hall ab. Über Craigslist, eine ebay ähnliche Website, haben wir herausgefunden, dass es im Herbst einige solche Läden gibt, die Verstärkung suchen.

Wir betraten den kleinen, vollgepackten Laden, der eine riesige vielseitige und bunte Auswahl an Kostümen, Accessoires und Perücken sowohl für Kinder als auch für Erwachsene verkaufte. Eigentlich war ich nie ein großer Halloweenfan gewesen, doch beim Anblick dieser Vielfalt, die sich auch keineswegs bloß auf Horror und Grusel beschränkte, erfasste mich eine Welle der Begeisterung.
Im Eingangsbereich standen lebensgroße, sich bewegende und sprechende Puppen, auch Animatronics genannt. Unter ihnen befanden sich Michael Myers, ein Zirkusclown, ein Drache und später kam auch Stephen Kings Pennywise hinzu. Nur wenige Wochen zuvor hatte ich zusammen mit einer Freundin den Film "It" angesehen. Extra morgens nach dem Frühstück und bei Tageslicht. Dennoch habe ich mich bei manchen Szenen an sie gekrallt und vor Schreck aufgeschrien. Diese Figur jagte mir darum einen gehörigen Schauer über den Rücken. Sie sah verdammt realistisch aus.

Die Chefin stellte sich uns als Jacina vor und erzählte gleich am Anfang, dass außer uns noch ein anderes Mädchen in den vergangenen Tagen ihren Lebenslauf hier abgegeben hätte. Sie habe so wie wir eine Vollzeitanstellung gesucht. Als Frisörin.
Angesichts dieser Konkurrenz erkannten wir, dass unsere Chancen auf die Arbeitsstelle besser standen als wir gedacht hatten. Anschließend begann das außerordentlich komplexe Bewerbungsverfahren.
Jacina führte uns zuerst durch den Laden. Anschließend fragte sie, ob wir uns vorstellen könnten mit Kunden zu arbeiten und ob es für uns ein Problem sei, diese nach Spenden fürs Kinderkrankenhaus zu fragen. Wir antworten so gut wir konnten. Also quasi: „Ja, natürlich." Und „Nein, gar nicht."
Dann beendete sie das Bewerbungsgespräch auch schon und meinte wir könnten am Montag sofort anfangen. Die gesamte Prozedur dauerte etwa 15 Minuten.

Zack, so schnell hatten wir einen Job. Wir freuten uns natürlich riesig endlich Geld verdienen zu können. Aber wir hätten nicht mit all dem Spaß gerechnet, den wir in den kommenden Wochen erleben würden.

Das hing zu einem Großteil mit unseren Kollegen zusammen.

Da gab es zum Beispiel Irina. Die schlanke, blonde Frau war die Liebenswürdigkeit in Person und sprach mit einem so starken russischen Akzent, dass es manchmal zu Verständigungsproblemen kam. Es gab jedoch nie Probleme sie zu verstehen, wenn sie uns irgendetwas zum Naschen anbot. Meistens drückte sie einem heimlich etwas in die Hand, wenn sie an einem vorüber ging. Irina war von der Energiequelle Zucker ganz und gar überzeugt. Somit versorgte sie uns mit Mandarinen, Datteln, Keksen, Chips,...

Oder Eddy, der Brasilianer, der eigentlich Edilson hieß, was sich aber keiner merken, geschweige denn aussprechen konnte.
Eddy heiterte uns gerne auf.
Außerdem arbeitete er schnell und fokussiert. Was für ihn problematisch war, das war Englisch. Darum fand man ihn häufig an einem Ort, an dem er laut Plan eigentlich nicht sein sollte, wenn man ihn suchte. Er tat meist etwas völlig anderes als das, wozu er beauftragt wurde.
Oft verstanden entweder wir ihn nicht oder er uns nicht. Das hielt uns aber nicht davon ab mit ihm zu scherzen und wir schafften es meistens ihn dazu zu überreden einen lustigen Hut oder eine hässliche Vokuhila-Perücke zu tragen.
Eddy hatte meistens einen großen Becher Kaffee an irgendeinem Ort deponiert, zu dem er immer wieder unauffällig zurückkehrte, um sich ein paar Schlucke davon zu genehmigen.

Ken war der Kollege, mit dem wir die 5-Sekunden-Therapie praktizierten. Dabei ist jeder sowohl Patient als auch Therapeut zur selben Zeit. Mit ihm konnte man nämlich in Kürze seine gesamten Emotionen per Augenkontakt austauschen. Jedes Mal, wenn wir einander über den Weg liefen, schauten wir uns mit genervt verdrehten oder gestresst geweiteten Augen an und fühlten uns gleich weniger alleine in unserer Anstrengung. Höchst effektiv.

Und dann gab es noch Debby. Wie soll ich nur die Worte finden, um sie zu beschreiben. Debby war eine etwa 60 jährige Frau mit blauem rückenlangem Haar. Weißt du was, kehren wir später zu Debby zurück. Ihre Beschreibung würde hier nämlich jeglichen Rahmen sprengen.

So gab es die gesprächigen Kollegen und die schweigsamen, die mehr Englisch sprechenden und die weniger Englisch sprechenden. Aber was alle gemeinsam hatten, war der Wille die Arbeitszeit so lustig und angenehm wie möglich zu verbringen.

Aber natürlich trugen auch die Kunden ihren Teil dazu bei uns sowohl zu belustigen als auch in den Wahnsinn zu treiben. Es gab die amüsanten Gespräche:

Kunde: „Entschuldigen Sie, haben Sie noch Arme oder sind die schon ausverkauft?"

Ich: „Also ganze Arme haben wir leider keine mehr, aber ich kann ihnen noch Hände oder Füße anbieten."

Zwischendurch dann immer eine Person, meist des Typen ältere, etwas gehetzte Dame: „Hallo, ich habe nur ganz kurz eine Frage. Verkaufen Sie Tierkostüme?"

Ich antwortete: „Ja, klar. Um welches Tier handelt es sich denn?"

„Einen Hund", meinte sie erwartungsvoll.

„Ja", versicherte ich ihr. „Da haben wir mehrere Möglichkeiten. Für einen Erwachsenen oder für ein Kind?"

Sie schaute mich etwas verwirrt an und sagte: „Na, für einen Hund..."

Ich weiß nicht, ob sie etwas verrückt oder ich einfach begriffsstutzig war, aber nein, wir verkauften keine Halloweenkostüme für Hunde...

Oder:

Ein Kunde kam auf mich zu und fragte: „Entschuldigung, haben Sie noch diese kleinen Blutampullen?"

Da ich mir nicht ganz sicher war, wandte ich mich an meine Kollegin: "Hey, Irina, haben wir noch Blut irgendwo?"

„Soweit ich weiß nur noch das Blut in Flaschen", antwortete sie.

Und es gab die nervigen Gespräche:

Die Kunden, die in einen Laden gingen, in dem man Kostüme kaufen konnte und dann unfassbar überrascht waren, wenn man nach der Beratung rein aus Routine hinzufügte: „Sie können es auch in unseren Umkleidekabinen anprobieren. "
Die Kunden sahen einen oftmals äußerst verblüfft an. „Wirklich?", hakten sie nach. „Sie haben Umkleidekabinen?"
Ich deutete schweigend auf das riesige Schild genau hinter dem Kunden. Auf dem Schild stand in großen Buchstaben: Umkleidekabinen. Es hing dort für diejenigen, die nicht wussten, ob man in einem Kostümgeschäft Kostüme auch anprobieren oder nur kaufen kann.

Zwischendurch dann ganz unvorbereitet wieder ein Kunde:
„Entschuldigen Sie, verkaufen Sie Tierkostüme?"

Ich: „Ja, klar, welches Tier?"

Kunde: „Einen Hund."

Ich: „Für Erwachsene oder für Kinder?"

Kunde: „Für einen Hund..."

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