Kapitel 17 - Esther

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Die Baroness nickt eifrig, als hätte sie nun eine Vorstellung davon bekommen, was ich von ihr erwarte. Sie setzt sich aufrechter hin und wiederholt den Vers, dieses Mal als Frage, mit einem unsicheren und naiven Unterton in der Stimme. Ich lächele ihr bestätigend zu und ihre Wangen färben sich rosa vor Stolz.

Baron von Mailinger setzt ein: „Keinen Namen weiß ich, um dir zu sagen, wer ich bin: Geliebte Heilige, mein Name ist mir selbst verhasst, weil er dir feind ist. Hätt ich's schwarz auf weiß, ich würd das Wort zerreißen."

Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Durchlaucht, Sie erinnern sich, dass die Art, wie wir rezitieren, viel über uns selbst aussagt. Und so, wie sie gerade gelesen haben, lerne ich Sie als furchtbar gelangweilten Griesgram kennen." Annalies kichert vergnügt. „Wo ist Ihr Gefühl? Ich weiß, dass es existiert, also versuchen Sie, wie Ihre Nichte, sich mit Ihrem Charakter auseinanderzusetzen."

Der Baron blickt unzufrieden auf sein Buch. Annalies legt zögerlich die Hand auf seinen Arm. „Mach Dir nichts draus, Onkel Orland. Bei mir hat es beim ersten Mal auch nicht geklappt. Und du hattest einen viel längeren Text als ich. Schau mal, ich glaube, dein Charakter kann sich selbst nicht so ganz leiden und wünscht sich, jemand anderes zu sein. Vielleicht kannst du ihn traurig, aber trotzdem hoffnungsvoll klingen lassen?"

Gerührt beobachte ich, wie die beiden sich die Betonung erarbeiten. Vor ein paar Tagen hat Annalies sich noch gescheut, ihren Onkel von sich aus anzusprechen. Doch inzwischen scheint sie ihn immer mehr zu mögen, wird selbstbewusster in seiner Gegenwart. Und ich fühle mich so stolz, weil ich meinen Teil dazu beigetragen habe.

Orland von Mailinger wiederholt seine Passage und ich merke, wie viel Mühe er sich dieses Mal gibt. Er hat sich aufrechter hingesetzt und benutzt seine Stimme, als hätte er sein Leben lang rezitiert. Und ich weiß, dass er es tut, weil seine Nichte ihm wichtig ist und er nicht mehr für passiv und unzugänglich gehalten werden möchte.

Ich beobachte, wie die beiden einträchtig ihren Dialog führen. Annalies gewinnt an Selbstbewusstsein und spricht gefühlvoll:

„Wie kommst du her, sag mir, und sag warum?

Die Mauern sind doch hoch und schwer zu klettern,

Und dieser Ort ist Tod, denk, wer du bist,

Wenn wer von den Verwandten dich hier findet!"

Ich habe viele Rezitationen gehört und stelle erfreut fest, dass mein Schützling diesbezüglich nur wenigen Damen bei Hofe nachsteht. Sie hat sofort ein Gefühl dafür entwickelt.

„Beschwingt von Liebe schwang ich mich herüber", setzt Baron von Mailinger ein.

„Denn Liebe macht vor keiner Mauer Halt". Er macht eine kurze Pause, hebt dann seinen Blick und sieht mich an.

„Und was die Liebe kann, wird Liebe immer wagen:

Drum sind Verwandte mir kein Hindernis."

Ich spüre, wie ich Gänsehaut bekomme und meine Knie weich werden. Bilde ich mir das nur ein, oder hat er mich wirklich absichtlich angesehen? Ich bin verwirrt. Über diesen Blick und darüber, wie ich darauf reagiere. Es ist mir doch eigentlich egal, ob Herren mich beachten oder nicht. Was insbesondere er von mir denkt. Das letzte, was ich gebrauchen kann, ist auch nur die geringste Ablenkung von meiner Aufgabe. Mein Leben muss in geordnete Bahnen zurückfinden. Warum nur fühle ich mich von ihm so durchschaut?

Ein Klopfen an der Bibliothekstür unterbricht Annalies in ihrem „Wenn sie dich sehn, sie werden dich erschlagen..." und bringt mich aus meinen Grübeleien wieder in die Wirklichkeit zurück. Ernst betritt den Raum und meint: „Verzeihung, Durchlaucht, ich störe nur ungern. Herr Edwin Karden und seine Gattin sind eingetroffen und bitten um eine kurze Unterhaltung."

Orland von Mailinger seufzt. „In Ordnung. Tut mir leid, Annalies, ich schätze, darum muss ich mich kümmern. Du hast wunderbar rezitiert." Seine Nichte glüht vor Stolz. Er erhebt sich und lässt das Buch auf seinem Stuhl liegen. Im Vorbeigehen lächelt er mir zu und fragt: „Würden Sie womöglich in etwa einer halben Stunde in mein Arbeitszimmer kommen?" Ich nicke erfreut. „Natürlich, Durchlaucht." Während er das Zimmer verlässt, frage ich mich, was er wohl von mir will.


Ihr Lieben,

ich wünsche euch ruhige Tage und ein Frohes Weihnachtsfest sowie einen guten Rutsch ins neue Jahrzehnt! Dies ist mein letztes Kapitel des Jahres 2019, denn ich gehe jetzt mit dem Aktualisieren meiner Geschichte in eine kleine Feiertagspause bis nach Neujahr. 

Ich danke euch für eure vielen lieben Kommentare und Likes, auch wenn ich nicht mehr regelmäßig darauf antworte, weiß ich eure Bestärkung sehr zu schätzen!

Wie ihr sicherlich mitbekommen habt, sind die Textauszüge aus "Romeo und Julia" von Shakespeare (nur damit niemand etwas zu einer mangelnden Textquellenangabe sagt ;) ).

Bis ins neue Jahr!

Eure MissOpenBook


Die GouvernanteWhere stories live. Discover now