William

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Wie erstarrt blieb ich einen Moment sitzen, doch der Blick auf die Bühne war so vollkommen versperrt, weshalb ich aufsprang und vergebens versuchte, mich zu strecken, um über die Köpfe der Erwachsenen sehen zu können, die in der Reihe vor mir standen.
An das Klatschen dachte ich in diesem Augenblick gar nicht, viel mehr versuchte ich einfach, einen erneuten Blick auf den Geigenspieler zu erhaschen, der anscheinend schon dabei war, von der Bühne zu gehen.
Alle anderen Gruppen spielen zwei Stücke. Warum spielt er nur eines ?
Resigniert gab ich mein aufgeregtes Hin- und herbewegen auf und verlagerte mein Körpergewicht wieder auf beide Fußsohlen, als meine Mutter mich breit lächelnd ansah, während sie noch klatschte. "Siehst du, John ! Musik ist etwas Wunderbares !", flüsterte sie zwinkernd, da überschlugen sich die Gedanken in meinem Kopf und schnell stammelnd entschuldigte ich mich, meinte, ich müsse mal eben schnell auf die Toilette und bevor meine Mutter protestieren konnte, hatte ich mich an ihr und einem weiteren Elternpaar vorbeigeschoben und die schwere Tür nach draußen aufgedrückt, um den Saal zu verlassen.

Ich achtete gar nicht auf die überraschte Dame, die beobachtend im Gang stand und hastete an ihr vorbei zur Treppe, um das Erdgeschoss zu erreichen, auf dem sich die Bühne befand. "Nicht so schnell, junger Mann ! Das hier ist ein Konzertsaal !", rief sie mir mit schneidender Stimme hinterher, was mich tatsächlich dazu brachte, meine Schritte erschrocken zu verlangsamen, als ich die Marmortreppe erreicht hatte.
Was tust du, John ? Wo genau willst du denn bitte hin ?
Plötzlich hielt ich inne, die Hand noch auf dem Treppengeländer liegend und überdachte, was ich gerade getan hatte. War ich soeben aus einem vollen Konzertsaal geflohen, nur um eine Möglichkeit zu finden, den Jungen noch einmal zu sehen, der eben Geige gespielt hatte ? Einen fremden Jungen, den ich nicht einmal wirklich erkennen hatte können und über den ich nichts wusste, außer, dass er Bachs Suite No.3 spielte, als sei es ein Kinderspiel ?

Fast hätte ich den Kopf über mich selbst geschüttelt und machte Anstalten, mich zurückzubegeben, da öffneten sich die Saaltüren aller Oberränge und  Menschenmassen strömten laut schnatternd aus ihnen heraus. Anscheinend war das die Pause, das Programmheft hatte ich mir nach den ersten paar Liedern nicht genauer angeschaut, ich hatte auch so gewusst, dass es ein unendlich langer Abend werden würde, dem ich so schnell nicht entkam.
Will ich das überhaupt noch ?
"Da bist du ja, John, die zwei Minuten hättest du sicher auch noch warten können !", vernahm ich dann die leicht vorwurfsvolle Stimme meiner Mutter, die in ihren dunkelroten High-Heels auf mich zugelaufen kam, ihre Handtasche in der einen, das Jackett in der anderen Hand.
Sie versuchte jung auszusehen, das war offensichtlich, doch die dunklen Schatten unter ihren Augen hatte selbst das Make-up nicht verdecken können.

"Tut mir leid.", war alles, was ich herausbringen konnte, vor meinen Augen sah ich immer noch die wilden Locken des Jungen im Scheinwerferlicht und seine eleganten Finger, die über die Saiten seines Instrumentes tanzten.
Das konnte ich von da oben doch überhaupt nicht sehen !
"- Harrys Orchester gar nicht abwarten !", sprach meine Mutter mit einem leichten Leuchten in den Augen zu mir hinunter, denn obwohl ich in ein paar Wochen siebzehn werden würde und gerade einen Wachstumsschub hinter mir hatte, war sie noch wenige Zentimeter größer als ich. Da ich den Anfang nicht mitbekommen hatte, nickte ich nur gezwungen lächelnd, während sich all die Besucher auf der Treppe an uns vorbeidrängten und uns schließlich mit nach unten spülten, wo es Getränke und Brezeln zu kaufen gab.
Mum bot mir nicht an, etwas zu kaufen und ich fragte nicht danach. Bei solchen Verantstaltungen war das immer teuer, fast wie im richtigen Theater, schließlich handelte es sich hier um eine Privatschule. Im Normalfall waren die Eltern all dieser Kinder wohlhabend und viel beschäftigt, nicht so wie Mum.

Im Foyer sah ich mich angestrengt um, fast hoffend, den Jungen hier zu erblicken, obwohl ich wusste, dass die Teilnehmer des Konzertes hinter der Bühne ihre Aufenthaltsräume hatten.
"Mum ! John !", rief plötzlich jedoch eine Stimme, die mir allzu vertraut war und kurz darauf drängte sich meine große Schwester mit zum Winken erhobenem Arm durch die Menge. Ihr dunkelblondes, schulterlanges Haar war leicht zerzaust, doch das smaragdgrüne Kleid und die nagelneuen Ballerinas glänzten ordentlich, als sie außer Atem vor uns stehenblieb, ein aufgeregtes Funkeln in den sonst so spöttisch glänzenden Augen. "Habt ihr ihn spielen hören ? William ? Gerade eben ?", redete sie direkt weiter, zwischen ihren Worten immer wieder nach Luft schnappend, während Mum ihr erfreut den Arm um die Schultern legte. "Solltest du nicht hinter der Bühne sein, Harry ?", fragte sie daraufhin lachend, doch die Antwort meiner Schwester bekam ich gar nicht mehr mit.
William.
Sie musste den Geigenspieler meinen, den Jungen, der so wunderbare Klänge erzeugen konnte. Und wenn Harry hier war, dann bedeutete das, dass auch er es sein konnte !

Wahrscheinlich hatte ich keine 20 Minuten wie diese je zuvor in meinem Leben verbracht, indem ich nur versuchte, einen dunklen, lockigen Haarschopf in der Menge auszumachen und jedes Mal zusammenzuckte, wenn ich von hinten jemanden erblickte, der ähnlich aussah. Doch jedes Mal entschied ich, dass es nicht William sein konnte, irgendwie passte keiner der Jungen die ich sah zu dem Bild, das ich mir vorstellte.
Und keiner von ihnen hat die richtige Frisur.
Als ein tiefer Gong ertönte, der das Ende der Pause verkündete, folgte ich der Masse resigniert zurück zu unserem Platz und es wäre gelogen, wenn ich behauptet hätte, auch nur eine Note der weiteren Stücke vernommen zu haben. Selbst Harrys Auftritt, auf den meine Mum so unglaublich stolz war, zog an mir vorbei, wie ein Stummfilm und ich bekam nicht einmal mit, wie meine Mutter sich mit einem Taschentuch die Augen abtupfte, als sich das Orchester meiner Schwester verbeugte und von der Bühne verschwand.
Das einzige, was ich an diesem Abend noch bemerkte, war, dass niemand so starken Beifall bekommen hatte, wie der Geigenspieler.
William.

Girlfriend ? Not really my areaWhere stories live. Discover now