18. Stimme der Vernunft

489 34 7
                                    

Gähnend schleppte Kalila sich die Straße entlang, die zu dieser frühen Stunde noch vollkommen leer war. Kein normal denkender Mensch befand sich an einem Montagmorgen zu dieser unzivilisierten Uhrzeit freiwillig außerhalb seines Bettes – bis auf sie. Doch wenn sie es sich recht überlegte, war sie seit ein paar Tagen sowieso nicht mehr Teil der gewöhnlich vor sich hinlebenden Gesellschaft. Der geflügelte Kerl, der dafür verantwortlich war, hatte sich das gesamte Wochenende über nicht blicken lassen. Amirs Abwesenheit ließ sie die gähnende Kluft spüren, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte. Wenn er irgendwann mit seiner Geheimniskrämerei fertig war, konnte er gerne zur Schule kommen und sich wieder normal benehmen. Seufzend schob sie den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf das bevorstehende Treffen. Obwohl sie die Standpauke schon über einen Kilometer Entfernung hören konnte, hatte sie mit James vereinbart, sich vor der Schule zu treffen. Immerhin schuldete sie ihrem Freund eine Entschuldigung für die Rangelei mit Khemu und den damit einhergegangenen brüderlichen Herzinfarkt, den er ihr bereits frühmorgens am Telefon vorgeworfen hatte.

Das riesige schmiedeeiserne Tor mit seinen verschnörkelten Windungen und Verzierungen war zu ihrer Überraschung nicht abgeschlossen – anscheinend hatte der Hausmeister es bereits geöffnet. Noch ein Irrer, der sich zu unmenschlichen Uhrzeiten hier herumtreibt. Mit einem lauten Quietschen schob sie das Tor auf und betrat den Schulhof.

Einen Augenblick später entdeckte sie auch schon den langhaarigen Jungen, der erwartungsvoll auf einer Bank unter den Eichen saß.

»Dass du so früh aufstehst, um mir eine Standpauke zu halten, ist wirklich nobelpreisverdächtig«, begrüßte sie James und ließ sich neben ihm auf die Bank fallen.

»Wer hält sie denn sonst, wenn nicht ich?« Mit verschränkten Armen saß er dort; das sonst so ordentlich gebügelte Hemd wirkte wie hastig aus dem Schrank gezogen. Wie, als wäre er kurzzeitig aus dem Bett gefallen, hatte er sich die langen Haare in einen unordentlichen Zopf gesteckt.

»Amir und Alice haben mir beide schon ins Gewissen geredet, also wenn du dir deinen Atem sparen möchtest...«

»Warum hast du das gemacht?«, fragte er.

»Hallo? Du warst doch anwesend, oder nicht? Diese zusammengewürfelte Rasselbande kommt daher, bedroht Amir, beleidigt meine Freunde und hypnotisiert mich auch noch! Da fragst du ehrlich, warum ich ihm eine gepfeffert habe?«

»Das weiß ich alles. Aber warum greifst du plötzlich zu solchen Mitteln? So kenne ich dich nicht.«

Das gab ihr zu denken. Warum hatte sie derart extrem reagiert? Erica und Ezechiel waren auch nicht gerade die Freundlichkeit in Person gewesen und trotzdem war es bei einem verbalen Schlagabtausch geblieben.

»Vielleicht kann ich einfach den Gedanken nicht ausstehen, dass diese Dämonen und ihre Menschen sich benehmen, wie es ihnen gerade in den Sinn kommt.«

Aber wenn sie ehrlich zu sich war, nagte vielmehr an ihr, dass sie Amir einschüchterten. Denn trotz seiner Verschlossenheit und seinen Geheimnissen mochte sie ihn. Aus irgendeinem Grund flößten Ezechiel und Saif ihm jedoch so sehr Angst ein, dass er sich bei jeder Begegnung mit seinesgleichen noch mehr in sich zurückzog.

»Ich habe dem Pakt mir Amir zugestimmt, weil er meine Hilfe braucht.« Sie stützte das Kinn in die Hände. »Aber momentan fühle ich mich ziemlich nutzlos.«

Kalila berichtete ihm von Saifs Worten am Vortag. Zu ihrer Überraschung hatte James sie überhaupt nicht mitbekommen.

»Hat sie das gesagt?« Nachdenklich spielte er mit einer dunklen Haarsträhne. »Zugegeben, das ist seltsam, aber ich denke nicht, dass es von Bedeutung ist. Ist doch nicht unser Problem, dass die sich untereinander nicht grün sind. Noch ein Grund mehr, Amir davor zu schützen, sich dieser Gruselclique anzuschließen. Versprich mir nur, demnächst ein bisschen vorsichtiger zu sein.«

»Du brauchst nicht den großen Bruder für mich spielen.«

»Ich spiele nicht den großen Bruder für dich, sondern die Stimme der Vernunft! Du selbst scheinst ja offensichtlich keine zu haben.«

»Was immer du sagst, Nervensäge.« Sie grinste ihn an.

James deutete auf die behelfsmäßig aufgeklebten Pflaster an ihren Fingerknöcheln. »Was hast du deinen Eltern erzählt?«

»Ich hab ihnen gesagt, der Sportunterricht wäre etwas eskaliert.« Nicht gerade ihre beste Ausrede.

»Wenn sie dir das geglaubt haben, müssen sie Coach Russell wirklich für unverantwortlich halten. Oder sie haben keine Ahnung, wie Basketball funktioniert.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Wohl eher Letzteres.«

Einen Moment herrschte einvernehmliches Schweigen.

»Jetzt, wo wir schon einmal hier sind...« Er schirmte die Augen gegen das Licht der Morgensonne ab. Kalila wusste sofort, was er dachte.

»Ich hab meine Kamera dabei«, rief sie und sprang auf. Während der Geschehnisse der letzten Tage hatte sie es kaum geschafft, auch nur ein brauchbares Bild zu schießen. Sie zog James von der Bank und lief über den Hof. Die kühle Morgenluft wurde allmählich wärmer, als sie das Schulgebäude umrundeten. Im dahinter gelegenen Waldstück würde noch der Tau auf den Pflanzen ruhen – perfekt für ein paar Schnappschüsse.

Gerade wollten sie um die nächste Ecke biegen, als mit einem Mal ein lautes Lachen an ihr Ohr drang. Ein Lachen, das sie kannte.

Rasch packte sie James am Arm und hielt ihn zurück. Er wollte schon zu einer Frage ansetzen, doch sie presste ihm die Hand auf den Mund und drängte ihn an die Außenwand des Gebäudes.

Wieder erklang ein leises Kichern. Kalila bedeutete James, still zu sein. Sie lauschten.

»Das ist nicht lustig!«, ertönte laut und klar eine weibliche Stimme. Saif.

Kalila wagte es nicht, um die Ecke zu spähen, aber der Lautstärke der Stimmen nach zu urteilen konnte Saif sich nur wenige Meter entfernt befinden. Direkt hinter der Hausecke musste sie stehen. 

Kalila Edward - DämonenpaktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt