1. Der Wahnsinn beginnt

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An einer Rauchvergiftung zu sterben, war eine unschöne Angelegenheit.

Erneut explodierte eine milchige Rauchwolke vor Kalilas Augen. Daraufhin stiegen weitere Rauchschwaden aus dem Reagenzglas in die Luft und waberten durchs Zimmer.

Ihren Sonntagmorgen hatte Kalila sich definitiv anders vorgestellt. Sie zog sich den Ausschnitt ihres Pullovers über den Mund und beobachtete, wie Alice eine zweite Ladung weißes Pulver in das Reagenzglas schüttete. Ihr schien der beißende Geruch, den der Rauch ihrer Experimente absonderte, nichts auszumachen.

Kalila hingegen fragte sich bereits, warum sie eingewilligt hatte, ihrer Freundin bei ihren chemischen Versuchen zu helfen. Immerhin schrie das Wetter draußen danach, dass sie ihre Kamera hervorholte und ein paar Schnappschüsse machte.

»Gib mir mal das Magnesiumcarbonat«, bat Alice. Das Gesicht des indischen Mädchens zeugte von höchster Konzentration, als sie auf das Experiment hinter der Plexiglasscheibe starrte.

Kalila schob einen Haufen Zettel beiseite und reichte ihr den Pulverbeutel. »Wie viel willst du davon eigentlich noch hineinkippen?«, fragte sie und warf einen Blick durch das Zimmer ihrer Freundin. Chaos war eine Untertreibung für die Verfassung des Raums; Zustand nach einem Atomkrieg traf es schon eher. Reagenzgläser, Glaskolben und Flaschen mit undefinierbarem Inhalt lagen überall im Raum verstreut und vermittelten den Eindruck, ein verrückter Wissenschaftler würde dort hausen. Was wahrscheinlich sogar stimmte.

»So viel, bis wir die Übermenge Natron ausgeglichen haben«, antwortete Alice. In Gedanken versunken strich sie sich eine schwarze Strähne hinters Ohr und verteilte dadurch das Pulver in ihren langen Haaren. »Stell dir vor, was für tolle Bilder du schießen kannst, wenn das Experiment funktioniert!« Seit Wochen schwärmte sie bereits davon, endlich eine funktionierende Rauchbombe zu entwickeln, sodass Kalila es nicht über sich gebracht hatte, ihr Hilfe zu versagen. Außerdem war sie froh, nicht Zuhause sein zu müssen. Wenn sie dafür Laborassistentin für ein durchgeknalltes Genie spielen musste, war ihr das recht.

Alice starrte immer noch vollkommen fasziniert auf das Reagenzglas in ihrer Hand. Vermutlich tüftelte sie gerade in Gedanken an einer verbesserten Formel, die nicht ihr kleines Labor in die Luft jagte.

Kalila griff nach einer der Flaschen und schüttelte die farblose Flüssigkeit. »Das Wasserstoffperoxid ist fast leer« sagte sie, in dem Versuch, Alice vor die Tür zu locken. Dass sie bereits seit Stunden im Haus der Rayids lungerten, verstärkte ihre Ungeduld. Sie brauchte eine Pause.

Als Alice ruckartig den Kopf hob, hoffte sie bereits, das Experiment vorerst auf Eis legen zu können.

»Dann müssen wir Nachschub besorgen.«

Auch wenn sie lieber die restliche Zeit dazu genutzt hätte, ihre Kamera zu nehmen und ihre Sammlung an Naturfotografien weiter zu bestücken, nickte sie. Alice lag das Experiment am Herzen, also würde sie sich und ihre Atemwege bereitwillig dafür opfern.

Sie verließen das Haus und traten in die kalte Morgenluft. Die Straßen von Godwick Field waren zu dieser frühen Stunde noch verlassen. Wie in jeder Kleinstadt, deren Bewohner ihr Wochenende nicht damit verbrachten, filmreife Ninja-Ausrüstung zu basteln, schlummerten die Leute noch in ihren Betten.

»Wo willst du dieses Wasserstoffperoxid besorgen? Die Geschäfte sind geschlossen«, sagte sie.

Alice warf ihr ein verschmitztes Lächeln zu. »Mein Dealer trifft sich auch Sonntags mit mir.«

»Dein Dealer für illegale Chemikalien?«

»Genau.«

Schweigend liefen sie durch die verschlafene Stadt. Keine Menschenseele war auf den Straßen zu sehen, während sie um die Häuserblocks zogen und die Stille genossen. Die Überlandleitungen warfen mit ihren Schatten Muster auf den spröden Asphalt.

Während sie vor sich hin bummelten, überkam Kalila mit einem Mal ein seltsames Gefühl. Ihre Nackenhaare stellten sich auf und ein Kribbeln breitete sich über ihren gesamten Körper aus. Es fühlte sich an, als wäre ein Paar Augen auf sie gerichtet.

Sie warf einen Blick über die Schulter. Außer ihnen war niemand dort.

Je weiter sie jedoch liefen, desto stärker wurde das Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Wieder sah sie sich auf der Straße um. Keiner war zu sehen. Doch die Blicke, die sie im Rücken spürte, ließen nicht nach.

»Alles okay?«, fragte Alice.

»Ja...« Bestimmt hatte sie es sich nur eingebildet. Entweder das, oder die Chemikalien, die sie eingeatmet hatte, ließen sie paranoid werden.

»Du hast mich bestimmt mit deinen Pülverchen vergiftet«, scherzte sie, wurde aber das bedrückende Gefühl in der Magengrube nicht los.

Alice geheimer Dealer stellte sich als wortkarge Apothekerin heraus, die nicht sonderlich begeistert davon war, am Wochenende Notdienst zu schieben. Nachdem sie bezahlt hatten, knallte sie die Packung Wasserstoffperoxid auf den Tresen und verschwand wieder im Hinterzimmer.

In dem Moment, als sie aus der Apotheke traten, traf Kalila das unangenehme Kribbeln erneut mit voller Wucht. Ein Schauer jagte ihr über den Rücken. Nun war sie sich absolut sicher; irgendjemand beobachtete sie.

Die Blicke wurden auf dem Rückweg noch stechender. Aus dem Augenwinkel schaute sie sich immer wieder auf der Straße um, aber niemand war dort.

Gerade, als sie schon fest davon überzeugt war, an Verfolgungswahn zu leiden, ertönte ein leises Klappern hinter ihnen. Das Geräusch ähnelte dem von Metall, das auf den Boden aufschlug.

Kalila fuhr herum. Eine goldene Münze drehte sich auf der Straße wie ein Kreisel um die eigene Achse, ehe sie zum Stillstand kam und auf dem Asphalt liegen blieb.

Ohne zu überlegen, bückte Kalila sich und hob sie auf. »Warte mal«, sagte sie zu Alice. »Du hast Geld verloren.« Bereits als sie die Worte aussprach, erkannte sie jedoch, dass es kein Geld war. Die Münze war nicht nur größer und schwerer als gewöhnliches Geld, sondern hatte auch in der Mitte eine Gravur, deren seltsam verschlungene Linien ein verwirrendes Muster bildeten.

»Das ist nicht meine«, sagte Alice und betrachtete die Münze. »Aber die sieht irgendwie hübsch aus, also behalte sie doch einfach.« Mit einem Achselzucken ging sie weiter.

Kalila sah auf die glänzende Münze in ihrer Hand, in dessen Oberfläche sich ihr verwirrtes Gesicht spiegelte, und steckte sie ein.

Während ihres Heimwegs kreisten ihre Gedanken ohne Unterlass um die merkwürdige Münze. Zum gefühlt hundertsten Mal sah sie sich um, aber niemand war auf der Straße. Niemand, der die Münze hätte fallen lassen können.

Wenn weder ich noch Alice sie verloren haben, dachte sie, wer hat sie dann fallen lassen? Bei dem Gedanken fröstelte sie. Münzen fielen doch nicht einfach vom Himmel.

Kalila Edward - DämonenpaktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt