10 / Leergefegte Korridore

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An diesem Abend liege ich noch lange Zeit wach im Bett; ich grüble über die vergangenen Tage nach und über all das, was im Laufe dieses Schuljahres bereits vorgefallen ist. Und wie auch immer ich mir meine Gedanken hindrehe, ich komme nicht über dieses mich beschleichende Gefühl hinaus, dass an diesem Jahr etwas Seltsames ist.

Obwohl ich am nächsten Morgen von den im Wasser des Großen Sees sich brechenden Sonnenstrahlen geweckt werde, spüre ich deutlich, wie durchgefroren ich am ganzen Körper bin. Die Kälte ist in der Regel ein Zustand, der mir nichts ausmachen kann. Ganz im Gegensatz zu Samantha ist sie mir sehr viel lieber als die bruttige Wärme manch eines Hochsommertages. Und selbst bei der Kunst der Zaubertränke kann ich die eisig kalten Gebräue meist viel besser leiden als die vor Hitze brodelnden. Doch sobald die kühlen Wintermonate in Hogwarts anbrechen, wird auch für einen Slytherin die Nacht in den Kellergewölben zu einer eisigen Qual.

    Gerade als ich die Sorgen des letzten Abends beiseite schiebe und mich mit der Alltäglichkeit dieses Morgens zufrieden gebe, fällt mir auf, dass immerhin der heutige Tag ein nicht ganz alltäglicher ist. So wirklich weiß ich jedoch nicht, ob mich dies eher erfreuen, hektisch machen oder emotionslos lassen sollte. Doch bevor ich auch nur die Chance dazu bekomme, mich in diese Überlegung hineinzudenken, kommt Sam bereits in den Schlafsaal gestürmt.

„Ich kenne jemanden, der heute Geburtstag hat", ruft sie mit ihrer aufgedrehten Art, während sie mir lachend um den Hals fällt. „Alles Gute meine liebe und alte Sca!"

„Musst du gerade sagen", erwidere ich schmunzelnd, „wo du doch die erste warst, die sich ihrer siebzehn Jahre rühmen durfte!"

Verschlafen sehe ich mich im Schlafsaal um und entdecke überrascht ein kleines Päckchen, das liebevoll verpackt vor meinem Bett liegen. Mir huscht ein Lächeln über das Gesicht, als mein Blick auf das verformte, recht ungeschickt geklebte Paket fällt, dessen Herrichtung wohl trotz allem viel Mühe gekostet haben muss. Zwar wäre es eine Leichtigkeit, Knoten und Kleber mit ein wenig Zauberei in großer Schnelle vom Schummelpäckchen zu lösen, doch das könnte all der Arbeit niemals gerecht werden, die sich Sam für mein Geschenk gemacht hat. Und so Mühe ich mich noch Minuten später mit dem Öffnen der vielen Schichten ab, wobei Sam bereits ungeduldig auf der Bettkante hin und her rutscht.

    „Oh, Sam", rufe ich überwältigt, nachdem ich die letzte Schicht des Päckchens behutsam abgezogen habe. In meinen Händen halte ich eine mir nur allzu sehr bekannte Schachtel, Bertie Bott's Beans. Doch ein kleines Zettelchen an der Verpackung verrät mir, dass in diesem Geschenk ein wenig von Samanthas Zauberkunst steckt. Denn der Geschmack einer jeden Bohne soll an ein Ereignis erinnern, was sie und ich bereits gemeinsam erlebt haben. Breit grinsend nickt Sam mir zu. Ich verstehe ihre Aufforderung, woraufhin ich mir eine der verschiedenfarbigen Bohnen in den Mund werfe. Nachdem ich ein wenig darauf herumgekaut habe, nehme ich einen seltsamen Geschmack wahr und es dauert nicht lange, bis ich mich unweigerlich an ein vergangenes Ereignis erinnern muss.

    Damals habe ich mich nachts mit Sam in die Küche von Hogwarts geschlichen, nachdem wir den Tag zuvor eine Gruppe von Hufflepuffs ausspioniert hatten. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich in dieser Nacht gewesen bin, denn Streiche hatten bis dahin nicht zu meiner Stärke gehört. Schließlich war es Sam gewesen, die mich zu dieser Unternehmung überredet hat. Und möglicherweise genau deshalb, weil es mich in diesem einen Moment so viel Überwindung gekostet hat, werde ich den Geschmack dieses einmaligen Kesselkuchens niemals vergessen.

Gerade als ich vorschlagen will, in der Großen Halle nach Ruth und Yukina zu suchen, weist Sam mich auf ein weiteres Päckchen hin, dessen Ecke unter meinem Bett hervorlugt. Vorsichtig ziehe ich es darunter hervor und versuche herauszufinden, wer mir diese Freude bereitet hat. Obwohl ich keinen Hinweis über den einstigen Besitzer dieses Päckchens auffinden kann, befolge ich die Anweisung der daran befestigten Karte, „Öffne mich!" Auch Sam ist inzwischen neugierig geworden und sieht gebannt dabei zu, wie unter dem abgestreiften Papier ein dunkles, leicht vergilbtes Buch erscheint. Ich erhasche gerade noch einen Blick auf eine scheußliche, den Einband zierende Kreatur, da werde ich plötzlich aufgeschreckt.

„Alasca!" Sichtlich gehetzt kommt Emerald zu uns angelaufen; kleine Schweißperlen bringen seine Stirn zum glänzen. Noch ein wenig in Gedanken versunken setzt unser Vertrauensschüler zu einer Gratulation an, als ihm das Buch in meinen Händen auffällt. Sein skeptisches Verhalten verwirrt mich und ich blicke ihn verwundert an, denn er fordert mich mit ernster Miene dazu auf, ihn das Buch sicher verwahren zu lassen. Ich zögere, was Emeralds Aufforderung nur noch eindringlicher macht.

„Ich bitte dich, Alasca, vertrau mir!" In Emeralds Blick funkelt ein Hauch von Verzweiflung auf und vielleicht ist es genau das, was mich schließlich dazu bringt, ihm das seltsame Buch auszuhändigen. Noch bevor ich dazu komme, den Grund für all die Aufregung zu erfahren, wendet Emerald sich schon wieder zum Gehen ab.

„Vergiss nicht, dir etwas für den heutigen Abend einfallen zu lassen!" Das ist das letzte, was er mir noch zuruft, bevor er aus meinem Blickfeld verschwindet. Heute Abend. Bis dahin muss ich mir überlegen, wie ich dem Haus Slytherin im folgenden Jahr meinen Dienst erweisen werde. Auch dies gehört zu den Traditionen unserer Gemeinschaft. Indem man ein neues Lebensjahr betritt, verpflichtet man sich zugleich dazu, in diesem Jahr auch sein Haus weiter voranzubringen.

    So habe ich mich im vergangenen Jahr dafür eingesetzt, dass das Geheimnis unseres Gemeinschaftsraumes gewahrt wird, da es sich eine Gruppe junger Gryffindors zur Aufgabe gemacht hatte, das Versteck dieses Raumes ausfindig zu machen. Angeblich war in ihren Reihen das lächerliche Gerücht aufgekommen, wir Slytherins würden jede Nacht „Die Gebote des Salazar" verlesen. Dass diese stumpfe Denkweise über die vier Häuser von Hogwarts noch immer präsent ist, hat mich damals zutiefst verletzt. Und so habe ich mir überlegt, die Anordnung der Kerzen im Flur zu verändern, um über die täuschende Lichtstruktur den Eindruck zu erwecken, der Eingang zu unseren Gewölben würde sich in einer anderen Richtung befinden. Schon zu diesem Zeitpunkt habe ich auf dem Recht bestanden, allen Häusern gleichermaßen zu ermöglichen, das Versteck ihres Gemeinschaftsraumes geheim zu halten. Denn auch wenn dies die Gefahr birgt, ein Haus könnte im Geheimen etwas Bösartiges planen, so erhält es doch ein gewisses Vertrauen ineinander, welches trotz enttäuschenden Zwischenfällen die Gemeinschaft von Hogwarts stets zusammengehalten hat.

Nachdem der Einstieg in diesen nicht ganz alltäglichen Tag ein wenig verwirrender als erwartet war, muss ich erst einmal durchatmen, bevor ich Samantha in die Große Halle folge, wo wir nun schließlich Ruth und Yukina antreffen wollen. Doch noch während wir die langen Korridore entlang laufen, holt mich das beunruhigende Gefühl des vergangenen Abends erneut ein. Es erscheint mir ungewöhnlich still und verlassen zu sein. Selbst die von Sam verspottend getaufte „Ecke des Amortentia", die einem an anderen Tagen den Anblick sich berührender Verliebter eröffnet, scheint heute ganz einsam zu sein. Beinahe so, als sei an dem heutigen Tag niemandem nach einer Liebkosung zumute.

Erst als wir uns kurz darauf der Großen Halle nähern, vernehme ich mit der Zeit deutlicher werdende Geräusche. Auch Sam scheint die ungewöhnlichen Umstände bemerkt zu haben, denn mir fällt auf, wie sich unweigerlich ihre Schrittweite vergrößert. Ich beschleunige ebenfalls meinen Gang, um endlich einen Blick auf das seltsame Geschehen erhaschen zu können. Doch als wir die mir nur allzu gut bekannte Tür passieren und Sicht auf den riesigen Saal erhalten, wünsche ich mit einem Mal, ich wäre Minuten zuvor an der Liebesecke stehen geblieben und keinen Schritt weitergegangen. Obwohl eine aufgeregte Menge lärmender Schüler mir die Sicht zur Mitte des Raumes versperrt, bin ich nicht in der Lage zu verhindern, dass sich in meiner Brust ein Hauch von Angst und Sorge breitmacht. Es ist dieser gewisse Druck, der sich von den Lungen bis zum Herzen ausbreiten. Ein Gefühl, welches mich an die schlimmsten Momente meines Lebens erinnert.

Ich brauche einen kurzen Moment, um einen klaren Gedanken zu fassen. Dann nicke ich Sam ermutigend zu und wir bahnen uns einen Weg durch die dichte Menschentraube. Während ich mich stetig auf die Mitte der Menge zu orientiere, schlägt mir neben einem verzweifelten Murmeln der beißende Geruch von Angstschweiß entgegen. Auch an mir selbst kann ich beobachten, wie meine Zunge trocken und meine Hände feucht werden. Und schließlich stehe ich am inneren Rande der Masse, umrundet von vor meinen Augen leicht verschwommenen Gestalten.

Das gebrochene Schluchzen kommt plötzlich und unerwartet. Es fährt mir wie ein stechender Zauber durch meinen Körper, als ich mit ansehe, wie Ruth eine zitternde und wimmernde Yukina aus der Mitte schleift. Im scheinbar zeitgleichen Moment wandern meine Augen zu einem weiteren Anblick, welcher mich Erschaudern lässt. Ein hauchdünnes Stück über dem Boden der Großen Halle schwebt ein sich kreisender Körper, dessen Brust sich gleichmäßig auf und absenkt, wohingegen der Blick leer und starr erscheint. Ich spüre, wie meine Beine zusammen zu fallen drohen, als mir ein ersticktes Stammeln entfährt, „Toivo!"

ALASCA PRINCE und der letzte TodesserWhere stories live. Discover now