1 / Abschied in Cokeworth

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Nachdenklich blicke ich in den Spiegel. Seit meinem ersten Schultag in Hogwarts habe ich mich sehr verändert. Meine schwarzen Haare, die damals immer so wild in der Luft herumflogen, trage ich inzwischen streng als Dutt nach hinten geknotet. Meine geröteten Wangen wurden so blass wie der Rest meiner Haut und auch die Sommersprossen von früher verschwanden im Laufe der Zeit. Nur meine Augen veränderten sich nicht. Noch immer leuchten sie strahlend blau. Wie die Augen meiner Großmutter.

Plötzlich spüre ich, wie etwas weiches mein linkes Bein streift. Ich blicke hinab und stelle erfreut fest, dass es einer von Großmutters Knieseln ist. Einen kurzen Moment denke ich nach, bis mir sein Name einfällt. Moon. Mit seinem roten Fell und den schwarzen Punkten erinnert er mich allerdings eher an einen Marienkäfer. Bei diesem Gedanken muss ich grinsen. Wenig später ertönen Großmutters Rufe von unten.

„Alasca, mein Engel, wo bleibst du?" Die Stufen knarzen, als sie eilig die Treppe hinaufgelaufen kommt. „Der Zug fährt in zwei Stunden"

„Meine Sachen sind gepackt", antworte ich, während ich Moon hinter den Ohren kraule. „Ich habe sie schon nach unten gebracht"

„Moon scheint dich ja sehr zu mögen", stellt Großmutter fest und ein Lächeln breitet sich auf ihrem aschfahlen Gesicht aus, als sie uns beide entdeckt. „Er ist nicht allen gegenüber so aufgeschlossen. Allgemein ist er ein eher scheuer Kniesel. Dass er so zutraulich ist, kommt nicht häufig vor"

Das verwundert mich. Obwohl Großmutter Knieselzüchterin ist und sie in ihrer kleinen Wohnung beinahe zwanzig Kniesel rumstreunen lässt, hatte ich bisher noch nicht viel Kontakt zu diesen Wesen. Lediglich Glory und Sue, die drolligen Knieselgeschwister, beschnuppern mich immer neugierig, wenn ich Großmutter in Cokeworth besuchen komme.

Vorsichtig gebe ich Moon einen Abschiedskuss auf die Nasenspitze. Dann verlasse ich das Zimmer und folge Großmutter nach unten in die Küche wo ich mir hastig eine Scheibe Brot schmiere. Wie jedes Jahr, bevor ich nach Hogwarts fahre, liegt ein kleines Päckchen auf dem maroden Küchentisch. Freudig nehme ich es hoch und schaue es an. Ich ahne bereits was es beinhalten könnte. Und tatsächlich springt mir, als ich die Schleife von dem Geschenkpapier löse, ein aufgeschreckter Schokofrosch entgegen. Er ist noch größer als das Jahr zuvor.

Inzwischen ist es zu einer richtigen Tradition geworden, dass Großmutter mir vor Schuljahresbeginn einen Schokofrosch schenkt und von Jahr zu Jahr wird er etwas größer. Das taten meine Urgroßeltern auch immer für sie. Zumindestens bis sie starben. Da war sie gerade einmal dreizehn Jahre alt und noch immer ist sie nicht ganz darüber hinweggekommen. Warum sie damals starben, weiß ich nicht. Großmutter redet nicht gerne darüber und sie meinte, sie werde es mir erzählen, wenn ich älter sei. Ich akzeptiere das.

Schlagartig werde ich aus meinen Gedanken gerissen, als der Schokofrosch eine bunte Blumenvase vom Küchentisch schmeißt. Großmutter hat sie in der Winkelgasse gekauft, nachdem ich die alte Vase als kleines Kind hatte explodieren lassen. Das war mein erster kindlicher Spontanzauber gewesen. Nun liegt auch die neue zerscherbt auf dem Küchenboden. Sie lässt sich jedoch wieder reparieren.

„Reparo!", ruft Großmutter energisch woraufhin sich die Scherben wieder zu einer Vase zusammensetzen.

Unterdessen hechte ich unter den Küchentisch und schnappe nach dem Schokofrosch, doch er entkommt um Haaresbreite. Geschickt hüpft er vom Boden auf die Spüle und entwischt daraufhin durch die Zimmertür. Ich fluche laut auf und folge ihm schließlich in den Flur wo ich beinahe über meine Reisetasche stolpere. Als ich mein Gleichgewicht wiederfinde, habe ich den Schokofrosch aus den Augen verloren. Verzweifelt laufe ich im Flur umher und halte nach ihm Ausschau. Doch er lässt sich einfach nicht blicken.

„Accio Schokofrosch!", ertönt es plötzlich aus der Küche und lässt ihn hinter der schwarzen Kommode hervorsausen. Deprimiert stapfe ich zurück und entdecke Großmutter, wie sie triumphierend auf einem Küchenstuhl sitzt. In ihrer rechten Hand hält sie ihren Zauberstab gezückt, in ihrer linken zappelt der Schokofrosch. Ich ärgere mich mal wieder, dass ich außerhalb der Schule nicht zaubern darf, bin jedoch auch froh, den Schokofrosch wiederzuhaben.

    Als Großmutter ihn mir reicht, fällt mir das kleine Band auf, das um den Hals des Frosches hängt. Behutsam nehme ich es ab und falte die türkisfarbene Karte auf, die daran befestigt ist. ‚Für Dein sechstes Schuljahr. Ein ganz besonderes Jahr', entziffere ich Großmutters Handschrift und muss lächeln. Das war das Jahr in dem sie in einem leerstehenden Klassenzimmer heimlich ein Tierheim eröffnete, wo sie sich um die Tiere kümmerte, die von anderen Schülern vernachlässigt wurden. Dort entwickelte sie auch ihre Leidenschaft für Kniesel.

Unter der Schrift klebt ein leicht zerknicktes Foto einer Hexe. Nach einer Weile erkenne ich, dass es ich um Altheda, meinen Lieblingscharakter aus den Märchen von Beedle dem Barden, handelt. Sie steht auf einer Blumenwiese und winkt mir aus dem Foto heraus fröhlich zu. In der unteren Ecke steht in verschnörkelter Schrift ein weiterer Satz. ‚Ich habe dich lieb, mein Engel!' Als ich das lese, steigen mir Tränen in die Augen. Schon als ich ein kleines Mädchen war, nannte sie mich ‚mein Engel' und bis heute hat sie es beibehalten.

Behutsam nimmt sie mich in die Arme und ich drücke sie ganz fest an mich. Dann machen wir uns auf den Weg zum Bahnhof King's Cross.

ALASCA PRINCE und der letzte TodesserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt