Prolog

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Schmerz. Alles zerfressender, furchtbarer Schmerz.

Pressen! Gleich ist es geschafft!"

Wie durch eine Wand aus Watte drang die aufgeregte, hohe Stimme der Hebamme zu ihr.

Schmerz. Wie eine Welle, ein Tsunami tobte er in ihr.

Pressen!"

Immer wieder brüllte diese grässliche Frau das Wort, den Befehl in ihre Ohren. Hatte sie denn nicht schon genug Schmerzen? Mussten jetzt auch noch Ohrenschmerzen dazukommen?

Ein lauter, gellender, animalischer Schrei entrang sich ihrer Kehle. Sie sah ihr helles langes Haar in schweißigen Strähnen in ihrem Blickfeld.

Schmerz. Wie das tiefste Höllenfeuer wogte er in ihr.

Pressen! Du schaffst das, Kalli! Nur noch ein kleines Stück!"

Sie fühlte sich als würde ihr Körper in zwei Hälften gerissen! Kalli nahm die Anwesenheit ihres Mannes nur am Rande war. Genau, wie seine Hände, die sie momentan krampfhaft umklammerte. Er sagte keinen Mucks über den Schmerz den ihre langen Fingernägel hundertprozentig bei ihm verursachten. Er stand nur neben ihr und sprach ihr immer wieder mit beruhigendem Ton Mut zu. Sie verstand nichts, aber dieses Grundrauschen, dass er von sich gab, war wunderbar. Dafür liebte sie Daniel noch mehr, als sie es sowieso schon tat.

Schmerz. Wie abertausend Messer, die sie von Innen her zerfleischten.

Pressen! Man kann den Kopf schon sehen! Komm! Du schaffst das!"

Verdammt! Das ging alles zu schnell und tat zu weh. Sie musste sich konzentrieren, musste den Restverstand, der nicht mit der Geburt und den Schmerzen verbunden war, dazu bringen an die eine, die wichtigste Sache zu denken. Verdammt... Was war das noch gewesen?

Schmerz. Wie zwei Kontinente, die in ihrem Inneren auseinanderdrifteten und sie zerrissen.

Pressen! Nur noch zwei Mal, dann ist der Kopf draußen! Los!"

Es hatte irgendetwas mit einem Vertrag zu tun. Aber welcher Vertrag war das gewesen? Hatte sie ihn unterschrieben... Nein... Er war älter. Und so unglaublich wichtig. Eines der wichtigsten Dinge, die auf dieser Erde, in ihrem Leben existierten... Das Dokument beschützte nicht nur die Menschheit, sondern auch die anderen Wesen, die in diesem Universum wandelten, vor unglaublichen Schmerz und Leid. Was stand nur darin...

Schmerz. Wie ein Glassplittersturm, der in ihr wütete.

Pressen! Nur noch ein einziges Mal, dann ist der Kopf da!"

Oh Gott! Natürlich! Natürlich, verdammt! Das war es! Das besagte der Schwur! Sie hätte früher daran denken müssen. All diese Sterblichen wussten nichts von dem Fluch. Nur sie wusste davon. Also musste sie den Regeln folgen.

Augenblicklich riss sie ihre Hände aus denen ihres Mannes und presste sie auf ihre Ohren. Sie zitterten extrem und wollte ihre Finger vor Schmerz und Angst ballen, aber sie hielt sich davon ab. Jetzt musste sie stärker sein als sonst jemals in ihrem Leben. In einem Moment hatte sie Gewissheit. In einem Moment war alles vorbei. Sie hörte nichts, sah nichts, fühlte nur.

Schmerzen. Überwältigende, brennende, eisige, schneidende, zerreißende, verfluchte Schmerzen.

Ihr eigener Schrei hallte in ihr wieder. Sie spürte wie der kleine Körper ihrer Tochter aus ihr glitt, konnte aber ihre Augen nicht öffnen, sah nur Schwärze und lauschte dem Nichts.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging, während der sie so dasaß. Sie wusste nicht, ob ihr Kind schrie oder ob ihr Baby überhaupt am Leben war.

Sie wusste nichts, bis Daniels große Hände vorsichtig ihre Finger ergriffen und sie von den Ohren nahmen.

Unsere Tochter ist da. Sieh doch!" Sie öffnete die Augen Stück für Stück und blickte in sein Gesicht über das Freudentränen liefen. „Unser Baby ist da! Unser kleines, süßes Wunder."

Die Hebamme lächelte sie selig an. Ein kleines Etwas war in einer weichen, weißen Decke eingeschlagen und lag in ihren Armen.

Das ist deine Tochter."

Mit diesen Worten wurde ihr das Bündel überreicht indem es auf ihren noch rumorenden Bauch gelegt wurde. Von der Geburtsvorbereitung wusste sie, dass die Plazenta noch nicht da war, aber noch kommen musste. Noch war nicht alles vorbei. Aber das war egal.

Das kleine Etwas hatte rosige Wangen und war glitschig. Sie, ihre Tochter, öffnete die kleinen Äuglein, als Kalli sie berührte.

Schwarz-Weiß. So blickte ihr Baby ihr entgegen.

Für einen Augenblick sahen sich Mutter und Tochter schweigend an. Kalli konnte sehen, wie die Nasenflügel sich blähten, wenn ihr Kind atmete.

Kalli liebte dieses kleine Wesen auf ihrem Bauch über alles. Mit einem Schlag wurde es ihr klar. Sie liebte sie fast so sehr, dass es weh tat. Dieses wunderschöne Etwas mit verklebten Flaum auf dem Köpfchen. Sie dankte allen Göttern dafür, dass es sie gab.

Ich liebe dich. Über alles." flüsterte sie mit kratziger Stimme. Ihr Hals tat von den Schreien weh, aber das war vergessen wie auch der Schmerz und alles andere. Ihr Universum basierte nur noch auf dem kleinen Bündel.

Und als hätte die kleine Kreatur ihre Mutter verstanden, blinzelte sie sie mit den leuchtenden Augen an - rechts dunkelbraun und links hellblau - und gluckste fröhlich.

Zu diesem Zeitpunkt zerbrach Kallis Welt.

Ihr kleiner Schatz hatte gerade kurze Töne von sich gegeben, die melodischer und schöner und klarer waren als alles andere Existente und Nonexistente in der Unendlichkeit. Sie hallten in Kalli wieder, vervielfältigten sich, brachen sich, steigerten sich zu einem Dröhnen, einer Sinfonie, bis sie schließlich erstarben.

Kallis Blick hob sich von ihrem Baby und sah die übrigen Personen in dem Raum an. Einige Krankenschwestern wuselten durch die Gegend, aber das interessierte sie nicht. Nein, wichtig waren ihr Mann Daniel und die Hebamme. Beide blickten nicht sie an, sondern das glucksende, sabbernde Kind auf ihrem Körper. Und zwar mit einem Blick, aus dem sprach, dass ihr Baby mehr geliebt wurde als sonst etwas auf dem Planeten.

Nein! Nein!" Sie wiederholte dieses eine Wort immer wieder, während sie ihren Blick zurück auf das Kind lenkte.

Bitte nicht. Nein." Ihre Stimme versagte, als die ersten Tränen über ihre Wangen liefen. Krampfhafte Schluchzer überrollten ihren Körper wie die Wehen zuvor.

Wieso hatte der Fluch sie treffen müssen? Weshalb? Warum waren die Teppiche so verdammt grausam?

Sie spürte die silbrige Spitze ihres Eherings schmerzhaft, als sie ihre Fäuste ballte. Silbern blitzte auch der Anhänger ihres Armbands auf, als sie ihren verschwommenen Blick darauf wandte nur um ihr Baby nicht mehr ansehen zu müssen.

Sie konnte es nicht. Es ging nicht. Sie konnte dem Vertrag nicht Folge leisten. Nicht bei diesem kleinen, perfekten Wesen auf ihrem Bauch. Es ging einfach nicht. Sie liebte sie so sehr, so unglaublich, so übermenschlich.

Es ging nicht. Sie konnte ihre Tochter, ihr Kind, ihr Universum nicht töten.

Aber sie musste.
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Song:
Into the Fray (Fan Edition)

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