16 Jahre später...

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Das gleiche Gefühl das sich wie bei jedem Besuch zweimal die Woche in mir breit machte. Ausgelöst vom gleichen Geruch, den gleichen Eindrücken und dem gleichen Seelenklemptner wie jedes mal.

Doktor Elaine Burtons Praxis für 'Verhaltensauffälige Kinder und Jugendliche' empfing mich und meine Mutter wie jeden Mittwoch Nachmittag, pünktlich um 16 Uhr. Wie jeden Mittwoch und Freitag saßen wir dort auf den unbequemen, mintgrünen Plastikstühlen, in dem sonst grau in grau gehaltenem Wartezimmer. Während meine Mutter in dem gleichen Magazin wie jeden Mittwoch blätterte, starrte ich wie jeden Mittwoch aus dem Fenster, das eine Straße in einem weniger belebten Teil Manhattans zeigte.
Als mein Name aufgerufen wurde, erhob ich mich unwillig und folgte der Sekretärin, die mich mit ihrer aufgelösten Frisur an einen Wischmop erinnerte, die mich in Doktor Burtons 'Sprechzimmer' führte.
Meine Betitelung des Raumes, nämlich 'Vorzimmer zur Hölle', beschrieb den Raum passender.

Wieder ein Raum, wieder grau in grau, in dem ein klobiger Schreibtisch, ein unglaublich hässlicher Teppich und zwei Ledersessel ihren Platz fanden. Zusätzlich zu dieser wirklich miserablen Inneneinrichtung, man sollten den Architekten steinigen, hingen Zeichnungen von kleinen Kindern an den Wänden, die allerlei glückliche Familien zeigten.
Mal drei, mal vier Strichmännchen, alle samt mit einem fetten Grinsen im Gesicht, alle samt hatten sie die Hände des jeweils anderen Männchens umfasst. Friede, Freude, Eierkuchen. Da wurde einem ja richtig schlecht von.

Entnervt ließ ich mich in einen der Sessel fallen, trommelte mit den Fingern auf die Lehne und sah meiner Mutter hinterher, die sich, welch Wunder, wie jedes Mal vor mich stellte und mich besorgt musterte. Ich erspare mir die Rede, die sie wie vor jedem Termin hielt und konzentrierte mich darauf einen bestimmten Rhythmus zu trommeln. Irgendwann stoppte der Fluss an Buchstaben und Silben und machte den Buchstaben und Silben einer anderen Frau Platz, nämlich denen, aus Doktor Burton's Mund. Meine Gedanken schweiften ab, trugen mich zu jenen Erinnerungen aus meiner Kindheit die ich nicht zuordnen konnte, jenen, die von den beiden Frauen im Zimmer als Verdrängung der Tatsache vom Tod meines Vaters abgetan wurden. Sollten sie denken was sie wollten, ich wusste es besser. Ich wusste das ich mir die Kälte nicht einbildete, das die dunklen Räume, die lauten, Angst einflößenden Maschinen in die ich geschoben wurde und dieser fremde Mann im Anzug, ich wusste, das all das nicht meiner Einbildung entsprang, das all das viel mehr als 'Verdrängung' war.

Ich wurde zurück in die Wirklichkeit gerissen, als meine Mutter zu weinen begann und Doktor Burton sie an meiner Stelle therapierte. Natürlich tat es mir weh meine Mutter weinen zu sehen, Dad's Tod hatte sie unglaublich getroffen. Aber das Leben ging weiter, es musste, nach mehr als sechs Jahren. Damals war ich gerade 14 Jahre alt geworden und meine Mutter hatte sich schwer mit meinem Vater gestritten. Obwohl sie es versuchten vor mir geheim zu halten wusste ich, das sie sich scheiden lassen wollten. Es war nicht zu übersehen das ihre Ehe am Ende war, nicht zuletzt durch die unendlich vielen Vertrauensbrüche die in der Vergangenheit so viel zerstört hatten. Und dann kam Dad's Tod.
Betrunken auf dem Interstate Highway.

Nicht nur er war gestorben, nein, er hatte vier weitere Menschen aus dem Leben gerissen, indem er auf die andere Fahrbahn gekommen war und dort zwei Fahrzeuge gerammt hatte.

"Nun, Elizabeth, nach den Aussagen deiner Mutter, hast du in den letzten Monaten meinen Vorschlag angenommen." Ich musterte die zu stark geschminkte Frau, während sie mit ihrem Kugelschreiber auf ihrem Klemmbrett herum zeichnete. Ich zog eine Augenbraue hoch und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. Anscheinend verstand Doktor Burton meinen Gesichtsausdruck nicht wirklich zu deuten und plapperte wieder drauf los.

"Sie sagte mir, dass du nun deinen Gefühlen und Emotionen in lyrischer Form zum Ausdruck bringst."

Wieder kritzelte sie etwas auf den Block. Ich warf meiner Mutter einen giftigen Blick zu, doch diese war damit beschäftigt der Psychiaterin mein Privatleben haarklein auszubreiten.

"Frau Doktor Burton! Sie müssten meine kleine Lizzy singen hören! Sie hat eine so wunderschöne Stimme, es ist mir gänzlich unbekannt woher sie diese Fähigkeit hat. Und ihre Texte! So gefühlvoll und voller Emotion!"

Na super. Meine Mum hatte es geschafft, mich komplett lächerlich zu machen und mir ein altbekanntes Würgegefühl zu vermitteln. Burton musterte mich eingehen und lächelte leicht.

"Stimmt das, Elizabeth? Du singst und schreibst deine eigenen Texte? Na wenn das nicht mal ein Fortschritt ist!"

Hurra, kommt, klatscht alle mit! Beifall heischend sah sie zu meiner Mutter die mich bis über beide Ohren angrinste. Lahm schüttelte ich den Kopf.

"Ich singe nur manchmal mit dem Radio mit, das macht doch jeder normale Mensch..."

Ich spürte den enttäuschten Blick meiner Mutter auf mir ruhen, aber was als nächstes geschah, mit dem hatte ich nicht gerechnet. Sie erhob sich und wühlte in ihrer Tasche, um mehrere gefaltete Zettel heraus zu holen und sie Doktor Burton in die Hand zu drücken. Skeptisch musterte ich die Zettel. Moment mal! Das waren Seiten aus meinem Notizbuch, welches ich als provisorisches Tagebuch benutzte! Mein Mund klappte auf und mir stockte der Atem.

Meine Mutter hatte doch nicht etwa...?

"Mum, was ist das?", fragte ich sie fassungslos. "Ach mein Schatz, es tut mir Leid, ich wollte ja gar nicht spionieren, aber in letzter Zeit behauptest du immer öfter, das diese..."Verdrängungen" wahre Erinnerungen sind und da ich mir große Sorgen um deinen geistigen Zustand mache, musste ich mich einfach vergewissern, dass du die Therapiemethode von Doktor Burton anwendest, um dich von diesen, wirklich unglaublich absurden, Fantasien los zu reißen. Jedoch handeln die Texte die ich gelesen habe nicht von ihnen. Doktor Burtons Methode hat also Erfolg!"

Auch Burton, die mittlerweile meine gesamten, auf Papier festgehaltenen Gedanken studiert hatte, nickte nachdenklich und sah mich wieder an.

"Glaub mir, Elizabeth, es ist besser wenn du all das ruhen lässt und dich der Zukunft zuwendest, du wirst schon sehen."
Und mit diesen Worten war es um meine Selbstbeherrschung geschehen. Wütend sprang ich auf, stürzte auf die Psychiologin zu und riss ihr die Seiten des Tagebuchs aus der Hand. Zornig keifte ich sie und meine Mutter an.

"Was fällt euch eigentlich ein in meinem Kopf herumzuschnüffeln? Habt ihr nichts besseres zu tun, als mich zu zwingen jedes bisschen Privatsphäre offen zu legen, weil du...", ich deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf meine Mutter, "...schon beinahe darauf bestehst, dass ich seit Dads Tod einen Knacks im Oberstübchen habe!"

Wütend schnaubte ich, bevor ich meinen Zornesausbruch fortsetzte.
"Willst du mich eigentlich auf den Arm nehmen? Du sorgst dich um meinen geistigen Zustand?!"

Meine Stimme war nun zu einem schrillen Kreischen angeschwollen und beide Frauen versuchten beruhigend auf mich einzureden, doch ich ließ mich nicht bremsen.

"Wie, verdammt noch mal, soll ich in die Zukunft sehen, wenn ich nicht einmal genau weiß wer ich überhaupt bin? Sie sagen mir ich soll keine Fragen stellen, es kommt mir langsam so vor als wollen sie etwas vor mir verheimlichen, sie und meine Mutter! Ich werde in einer Woche volljährig und ich habe keine Verwendung mehr für diesen Blödsinn! Ich werde auch ohne ihre ach so tolle Hilfe herausfinden wer ich bin und was es mit diesen Erinnerungen auf sich hat!"

Noch immer geladen drehte ich mich zur Tür und stürmte geradewegs aus der Praxis hinaus, auf die Straßen Manhattans.

Ich würde es auch alleine schaffen. Die würden sich alle noch wundern.

Shattered MeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt