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Seit dem ersten Dezember war die Stadt hell erleuchtet. In einigen Nachbarschaften herrschte regelrechte Konkurrenz darum, wessen Haus am grellsten dekoriert war. In Omas Haus mochte man es gemütlich und etwas dezenter. Am Montag hatten die Kinder mit Luigi zusammen Fensterbilder gebastelt. An den Regenrinnen entlang verlief eine Lichterkette mit künstlichen Eiszapfen. Am Morgen hatten die Kinder die Krippe aufstellen dürfen. Vorher waren sie nicht einmal zum Frühstück zu bewegen gewesen. Dina und Andrea tauschten die Kissen und Deckchen im Haus gegen welche mit winterlichen Motiven aus, was einige Zeit in Anspruch nahm. Oma liebte Kissen und Deckchen.

Gerade war sie im Billardzimmer, als das Diensthandy klingelte. An sich war das nicht verwunderlich, aber umso mehr, dass es Sofias Nummer war, die auf dem Display stand. Für die Kinder war das die Nummer für absolute Notfälle. Ihr war schon nicht wohl damit gewesen, Beatrice allein mit ihnen loszuschicken. Aber es hatte nur die Eisbahn sein sollen und natürlich war es verständlich, dass sie auch etwas Zeit für sich haben wollte.

Bevor sie sich aber ewig darüber fertig machen konnte, dass sie nicht doch Maria ganz unauffällig auf sie angesetzt hatte, oder sich allzu farbenfroh die Dinge ausmalte, die geschehen sein mochten, nahm sie den Anruf einfach an. «Sofia?»

Im ersten Moment hörte sie nur etwas rascheln.

«Dina, ich hab Angst», flüsterte das Mädchen fast unhörbar leise.

Dina feuerte die Kissen auf das Sofa, wie sie waren, und griff sich in die Hosentasche. Der Schnabel ihres Gulls-Anhängers piekste beruhigend in ihre Hand. «Wo bist du, Kleines? Was ist passiert?»

«In meinem Kleiderschrank», piepste Sofia. «Wir haben Oscar nicht mitgenommen und wollten ihn nur schnell holen. Aber dann hat es an der Tür geklingelt und ...» Sie schluchzte. «Draußen ist Blaulicht und Mama sagte, wir sollen uns verstecken. Sie klopfen die ganze Zeit an die Tür und sagen, dass wir raus kommen sollen. Erst klangen sie noch nett, aber ... Ich hab Angst.»

Auf dem Weg in die Garage konnte Dina die Türen gar nicht so laut knallen, wie sie wollte. Wie konnte Beatrice nur dermaßen dämlich sein? Immerhin schien sie ein letztes bisschen Verstand übrig zu haben, das sie davon abhielt, zu öffnen. «Ich weiß, Liebes. Aber du wirst jetzt ganz tapfer sein. Du nimmst deinen Bruder und deine Mama und ihr versteckt euch im Baumhaus, okay? Und wenn ihr das Signal hört, klettert ihr über den Zaun und rennt zum Spielplatz. Da warte ich auf euch. Okay? Kriegt ihr das hin?»

«Welches Signal?», fragte Sofia schniefend.

So genau wusste Dina das auch noch nicht. Sie würde improvisieren müssen, aber das konnte sie. Irgendetwas ließ sich immer finden. Noch hatte sie nicht mehr als eine vage Ahnung. «Ihr werdet es dann schon erkennen.»

«Okay. Bitte komm ganz schnell.» Sofia klang schon etwas mutiger. Wenn man wusste, was zu tun war, wirkte alles gleich ein bisschen weniger duster.

«Ich bin bald da. Passt auf eure Mama und auf Oscar auf. Ich lege jetzt auf, aber wenn irgendwas ist, ruf mich einfach wieder an. Alles wird gut.»

Mehr Geraschel am anderen Ende. «Ich hab dich lieb, Dina.»

«Ich dich auch.» Sie beendete das Gespräch und trat gegen die Tür zur Werkstatt, dass sie gegen die Werkbank knallte und wieder zufliegen wollte. Mit dem Unterarm hielt sie dagegen. Als nächstes rief sie Luigi an. Was es jetzt brauchte, konnte nur er.

«Ciao, Dina!», rief er gut gelaunt über klirrendes Geschirr und plaudernde Stimmen hinweg. «Was liegt an?»

«Wo bist du?» Sie riss die Fahrertür auf, fiel in den Sitz und schloss das Handschuhfach auf. Man konnte ja nie wissen.

«Am Rathaus.» Plötzlich war er ganz ernst. Sie hörte seinen Stuhl über den Boden kratzen. «Was brauchst du?»

Das Rathaus war ideal. Zentrale Lage, Berufsverkehr. «Ich brauche dich. Du gehst jetzt da raus, suchst dir ein besetztes Taxi und kaperst es.»

Es war still bis auf zögerliche Fußschritte. Nicht einmal Atemgeräusche waren zu hören. Dina war schon drauf und dran zu fragen, ob er sie verstanden hatte.

«Stell keine Fragen und tu, was ich dir sage! Ein bisschen plötzlich!» Dass er zu feige war, sich um Collins zu kümmern, geschenkt. Aber heute, an diesem Punkt würde sie nicht mit sich reden lassen.

«Aber ... Wenn die mich erwischen ...»

«Wenn ich dich erwische», fiel sie ihm lauter als beabsichtigt ins Wort, «reiß ich dir die Milz raus und verfüttere sie an die Hunde, während zu zusiehst!» Später würde es ihr leid tun, ihre Wut an ihm ausgelassen zu haben. Wenn den Kindern allerdings etwas zustieß, weil er zu spät war, würde es ihm gewaltig leid tun.

Atemloses Schweigen.

«Du fährst durch die Innenstadt und ziehst so viel Aufmerksamkeit auf dich, wie du kannst. Dann zu Vince.»

«In den Knast?», fragte er mit dünner Stimme.

«Zu seiner Wohnung!» Sie startete den Wagen. Das Garagentor öffnete sich quälend langsam. «Wo er wohnt. Da werden Cops stehen und du wirst so lang um den Block fahren und Radau machen, bis sie dir allesamt folgen. Ist das klar?»

Die Geräusche um ihn herum veränderten sich weg von Stimmen hin zu Straßenlärm. «Aber wie soll ich sie dann loswerden?»

«Dir fällt schon was ein, du bist doch ein findiges Kerlchen.» Damit legte sie auf, ehe sie noch mehr Zeit vergeudeten. Auf dem Wegin die Vorstadt hielt sie sich peinlich genau an die Geschwindigkeitsbegrenzungen, gönnte sich nur das eine oder andere heikle Überholmanöver. Auf ein eigenes Intermezzo mit den Cops konnte sie jetzt wirklich verzichten. Die sollten sich ruhig alle auf Luigi konzentrieren.

Kinder ihrer ElternWo Geschichten leben. Entdecke jetzt