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Dina gab sich Mühe, die Details zu ignorieren, in denen der Schatten über dem deutlich wurde, was eigentlich ein heiteres Familienessen hätte sein sollen. Sie tat, als spielte es keine Rolle, dass sie nicht mit dem ganz guten Besteck vom ganz guten Porzellangeschirr aßen. Doch es gelang ihr nicht einmal, sich über Omas köstliches Tiramisu zu freuen. Wie gern hätte sie ihren Platz für diesen Abend Luigi überlassen, der nun ein paar Stühle weiter ganz bedröppelt dasaß und kaum wagte, von seinem Teller aufzusehen.

So hatte er sich das ganz sicher nicht vorgestellt. Da war er endlich aus der Haft entlassen worden, zurück im Kreis seiner Lieben, und bekam nicht einmal die Panna cotta zum Dessert, die er vergötterte. Auf die Fragen der anderen, was er die nächsten Tage vorhatte, antwortete er nur einsilbig und ohne den ihm sonst eigenen Enthusiasmus. Den ganzen Abend lang hatte Oma nicht ein einziges Mal das Wort an ihn gerichtet.

Es nagte an Dinas Herz, dass sie ihm nicht mehr Aufmerksamkeit widmen konnte. Im Augenblick war sie vollkommen damit ausgelastet, sich nicht zu einem Kuchengabelduell mit ihrem Neffen Antonio hinreißen zu lassen.

Den Kampf um die Selbstbeherrschung verlor sie. Das Duell gewann sie, wenn auch ganz knapp.

Oma ließ sich mit dem Nachtisch absichtlich viel Zeit, damit das, was Luigi so belastete, noch etwas länger bedrohlich in der Luft hängen blieb. Nachdem auch sie den letzten Krümel Tiramisu verputzt hatte, fiel ihre Gabel klirrend auf den Teller. Die drei Hunde, die bis eben friedlich unter dem Tisch geschlummert hatten, regten sich und winselten fragend.

Für Luigi, der es besser wusste, als es auf die zittrigen Hände einer alten Dame zu schieben, musste es einem Pistolenschuss gleichkommen.

«Ich habe mich so sehr auf eine Geburtstagskarte von dir gefreut, Luigi», sagte Oma mit echter Traurigkeit in der Stimme. «Du schreibst mir immer die schönsten Karten.»

Mit einem eisigen Blick, der von allen außer Dina unbemerkt blieb, stand Beatrice auf und räumte ihr Geschirr zusammen. «Kommt schon, Kinder, wir bringen Tante Fernanda ihr Abendessen.»

Antonio und Sofia rutschten leise von ihren Stühlen und sammelten auf dem Weg nach draußen das benutzte Geschirr ein. Sie wussten, wann sie nicht zu protestieren hatten. Dina war froh, dass sie überhaupt hier sein durften. Beatrice war sonst immer schnell mit irgendwelchen Ausreden zur Stelle, um die Familie nicht sehen zu müssen. Heute hatten die beiden ihren Willen bekommen.

Die schwere Stille dauerte an, bis die Tür zur Küche endgültig ins Schloss gefallen war. Die Blicke, die einander bisher vorsichtig ausgewichen waren, wanderten nun zu dem armen Luigi.

«Oma, ich saß im Knast», verteidigte er sich verzweifelt.

«Die anderen haben mir auch geschrieben», erwiderte Oma mit Bedauern und ein bisschen Trotz. «Leonardo ist sogar um Mitternacht hier gewesen, um mir zu gratulieren und mir ein Küsschen auf die Wange zu geben.»

Dinas Blick sprang von Luigi auf Oma. Davon hatte sie überhaupt nichts gewusst. Leonardo war Omas Liebling, daran änderten auch die leiblichen Enkel und Urenkel nicht viel. Aber nahm er nur deswegen ein solches Risiko auf sich? Wie war er ohne ihr Wissen an die Mittel gelangt, für eine Nacht aus dem Gefängnis und wieder hinein zu kommen?

«Dafür hab ich mir extra Mühe gegeben, um frühzeitig entlassen zu werden. Damit ich zu Weihnachten hier bei dir sein kann.» Sein Anblick brach Dina beinahe das Herz. Nicht nur, dass er sich offensichtlich ernstliche Vorwürfe wegen der nicht vorhandenen Karte machte. Sein rastloser Blick streifte Dina und ihr aufmunterndes Lächeln konnte hoffentlich verhindern, dass er sich zu detailliert ausmalte, was sie ihm alles antun konnte. Zu viel hatte er sicher nicht zu befürchten. Für Fälle wie diesen wandte Oma subtilere Methoden an, um das schlechte Gewissen beliebig lang und quälend aufrecht zu erhalten.

«Das ist lieb von dir, mein Junge.» Oma lächelte und er fing es auf wie ein Stück Brot, das man einem ausgezehrten Mann hinwarf. «Je weniger zu Weihnachten am Tisch fehlen, desto besser.»

Weihnachten in Omas Haus war der Höhepunkt des Jahres. Das gute Gefühl hielt bis zum Sommer vor, und dann konnte man anfangen, sich auf das kommende Fest zu freuen. Tante Fernanda, Omas Schwester, die während des Kalten Kriegs zurück nach Italien gegangen war, reiste immer schon im November an, vor Omas Geburtstag. Das allerdings nur, um sich länger darüber beschweren zu können, dass im Haus die männliche Hand fehlte, seit Oma nach dem Tod von Dinas Vater die Familiengeschäfte übernommen hatte. Sie gehörte zu einem anderen Schlag Menschen, nämlich zu dem, dessen Kinder sämtlich noch am Leben waren.

«Was ich auch tun kann, um mich zu entschuldigen, Oma, ich tue alles

«Ich weiß, mein Junge.» Oma hielt Dina ihr leeresWeinglas hin und bedachte sie mit einem warmen Lächeln. «Und ich komme daraufzurück.»

Kinder ihrer ElternWhere stories live. Discover now