Kapitel 31

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Der ganze Saal ist geschockt, meinem Vater fallen beinahe die Augen aus dem Kopf und soweit habe ich ihn seinen Mund noch nie aufreißen gesehen. Auch ich kann kaum fassen, was meine Mutter gerade von sich gegeben hat. Denn ich muss über diese Aussage nicht eine Sekunde nachdenken, um zu wissen, dass sie gelogen ist. Niemals würde mein Vater meine Mutter anfassen. Sie hatte nie einen blauen Fleck, ich habe sie nie weinen sehen. Sie war eindeutig der Tyrann in der Beziehung und ihre ekelhafte Art kommt, finde ich, in diesem Moment durch diese dreiste Lüge mal wieder wunderschön zum Vorschein.

Ich bekomme nicht mit, wie ich aufstehe und alle sich zu mir umdrehen. Meine Mutter dreht den Kopf zu mir, ihre braunen Augen funkeln mich wütend an, nahezu hasserfüllt. Doch ich glaube kaum, dass mein Blick sonderlich liebevoller ist. Mein Vater hat sich ebenfalls zu mir gedreht und sieht mich verzweifelt an. Ich weiß, dass er mich aus alledem möglichst raushalten wollte. Er hat meinen Flug bezahlt, er ist mit mir und meiner undankbaren Mutter nach Sydney geflogen. 

"Es reicht, Evelyn", sage ich in einem festen Ton, der nichts als abgrundtiefe Abneigung ausdrückt. "Deine Lügen haben doch schon genug zerstört."

Einen Moment herrscht Stille im ganzen Saal, man hätte es gehört, hätte der Teenager in der Reihe vor mir seinen Kaugummi heruntergeschluckt. Der Richter ist der Erste, der sich fängt und mich durch seine großen, dicken Brillengläser ansieht.

"Und wer sind Sie?", fragt er mit seiner noch immer nervtötend hellen Stimme.

"Meine verzogene Tochter", kommentiert meine Mutter herablassend. "Hat zu viel von ihrem Vater übernommen."

"Mein Vater liebt mich, im Gegensatz zu dir!" Ich verlasse meine Reihe und laufe langsam den Gang zum Richter und meinen Eltern entlang. Alle Augen sind auf mich gerichtet. "Dad hat dafür gesorgt, dass ich deine ekelhafte Art nicht ertragen muss", setze ich an. "Er hat einen Flug, nein, genau genommen zwei Flüge, einmal um die Welt bezahlt, damit ich das alles nicht ertragen muss, damit es mir gut geht. Und es ging mir verdammt gut in Korea." Ich stelle mich vor ihren Tisch,  ihre Anwältin sieht mich durch ihre blauen Augen überrascht an. "Ich habe erfahren, wie es ist, verliebt zu sein. Jedes normale Mädchen wäre dann doch zuhause sofort zur Mutter gerannt und hätte ihr glücklich alles über ihren Engel erzählt, ist es nicht so?" Ich stütze die Hände auf dem Tisch ab und lehne mich zu ihr vor. "Aber als ich dich gesehen habe, dich und deine Lügen, eine Mutter, die ihr Kind nicht liebt, da wusste ich, dass ich dich nur als ein erbärmliches Miststück ansehe, dem ich gegenüber nur eins hegen kann und das ist Hass." Ich mache eine kleine Pause. "Deine Tochter ist erwachsen geworden und du hast es verpasst. An deiner Stelle würde ich mich zu Tode schämen."

Die Stille im Saal scheint noch ein Level aufgestiegen zu sein. Niemand sagt etwas, für fast eine ganze Minute. Alle sehen nur meine Mutter an, die mich noch immer aus ihren braunen Augen anstarrt, als wäre ich ein Alien, welches ihr Baby entführt hat. Sogar der Richter mustert sie. Alle warten nur auf eine Reaktion.

Sie öffnet den Mund und bricht den Blickkontakt zu mir nicht ab. "Ich möchte eine Anzeige erstatten", zischt sie.

Die Stille, der Schock, hält noch eine Weile an. Dann genehmigt der Richter die Anzeige und es wird festgelegt, dass morgen der nächste Gerichtstermin ist. Ich habe einen asiatisch aussehenden Mann bemerkt, der kurz vor Ende der Verhandlung mit einem Handy am Ohr den Raum verließ, doch habe ich gerade ganz andere Sorgen als den. Meine Mutter will sich mit einer Lüge retten.

Am Abend rufe ich Felix an und bespreche das Ganze mit ihm. Wir beiden wissen, dass er von Korea aus nahezu nichts ausrichten kann, also versucht er, mich mit seinem Lächeln, seinen Worten und Songtexten, an denen er arbeitet, aufzuheitern. Und das klappt alle Male. Obwohl ich innerlich koche vor Wut und beinahe ausraste vor Sorge um das Schicksal meines Vaters, bringt mich mein Engel zum Lachen.

"Und dann meinte Jeongin- Hey, Chan, ich hab Haruka hier, willst du Hallo sagen?" 

Im nächsten Moment presst sich ein weiterer blonder Haarschopf ins Bild. Warte- blond?

"Chan", sage ich entrüstet. "Warum hast du mir nicht erzählt, dass du dem Blondinen-Club beigetreten bist?"

"Ist erst seit einer halben Stunde so", schreit er beinahe ins Mikro.

"Die hört dich auch, wenn du normal redest", sagt Felix und sieht ihn kritisch an.

"Lass mich", sagt Chan daraufhin und sieht mich an. Er legt den Kopf schief. "Du siehst so bedrückt aus, was ist los?"

Ich kann mir die Tränen, die nun stumm über meine Wangen laufen, nicht verkneifen. Chan hat, allein an meinem Blick, erkannt, wie schlecht es mir ging und es hat ihn auch interessiert. Ich bin diesen Menschen dort wichtig und es schmerzt so sehr, zu wissen, dass sie so weit von mir entfernt sind. Es schmerzt, zu wissen, dass die Menschen, die für mich wie eine Familie sind, nicht bei mir sind und es schmerzt, dass der Mensch, der mir alles bedeutet, nicht bei mir ist und ich hier hocken muss und mir so etwas wie meine Mutter und den Schmerz in den Augen meines Vaters antun muss.

"Hey, hey... Nicht weinen... Haruka, was ist denn los...?" Die Besorgnis steht Chan ins Gesicht geschrieben. Er ist so ein toller Leader, ganz klar...

Gerade als ich antworten will, ruft mein Vater von unten meinen Namen. Ich sehe den (einen) Blonden vor mir entschuldigend an.

"Schon gut", beruhigt mich Felix. "Ich erkläre es ihm."

Ich nicke, bedanke mich bei ihm, sage ihm, dass ich ihn liebe und sage Chan, dass ich ihn lieb habe. Dann lege ich auf und tapse herunter zu meinem Vater, der schon in Mantel und Schuhen vor mir steht. Offensichtlich ist es Zeit für einen der guten, alten Vater-Tochter-Spaziergänge.

Dance With Me » Stray KidsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt