Kapitel 16 - Der geheime Herzenswunsch

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FEBRUAR, VIERZEHN JAHRE ZUVOR

Sorgfältig hatte ich alle Kleider wieder in den alten Pappkarton gepackt und ihn zurück in den Kleiderschrank gestellt. Ein weiteres Mal kontrollierte ich, dass auch wirklich alles so war, wie ich es vorgefunden hatte, bevor ich die zwei großen Türen schloss. Ich war wieder zu einem elfjährigen Jungen geworden, den Kopf voll mit Träumen und geheimen Wünschen, die mich nicht mehr los lassen sollten.

Erneut ermahnte mich das wilde Tier zur Eile, und keinen Augenblick zu spät. Von draußen ertönte das Knarren des alten Gartentors – Eine deutliche Vorwarnung, die mir klar machte, dass ich nicht mehr lange alleine sein würde. Mein Vater, stets bedacht Haus und Hof in Ordnung zu halten, wollte sich schon längst darum gekümmert haben, doch in diesem Moment war ich froh darüber, dass es nur bei seinem Vorhaben geblieben war.

Schnell verließ ich das Schlafzimmer, schloss die Tür hinter mir und lief die Treppe hinunter, immer zwei Stufen mit einmal nehmend, direkt in die Arme meiner Mutter, die gerade mit meinem kleinen Bruder zur Haustür herein kam.

»Peng! Peng!«, rief er, eine kleine Spielzeugpistole in der Hand haltend und rannte an mir vorbei, ohne mich weiter zu beachten.

»Warte du musst noch deine Stiefel ausziehen!«, rief ihm meine Mutter hinter her, als sie die Pfützen sah, die einen nassen Pfad bis in die Küche bildeten.

»Ich helfe dir!«, bot ich ihr an und holte einen Lappen aus der Abstellkammer. So gut es ging versuchte ich, meine Freude vor ihr zu verbergen und hoffte, ihr würde mein glühender Kopf nicht auffallen oder das mein Herz noch immer vor Aufregung pochte. Müde schaute sie mich an, nickte dankbar und verschwand ohne ein weiteres Wort ebenfalls in der Küche, während ich mich daran machte den Boden trocken zu wischen. Die quengelnde Stimme meines kleinen Bruders erklang, der nicht gewillt war, sich die Stiefel ausziehen zu lassen. Irgendwann gab meine Mutter auf und er konnte sie anbehalten.

Zurück in meinem Zimmer ließ ich mich freudestrahlend auf das Bett fallen. Mein innerer Gemütszustand sprang auf das wilde Tier über, sodass es ebenfalls vor Glück überzuschäumen schien. Es war ein unheimlich befreiendes Gefühl, als wäre ich selber die ganze Zeit in einem Käfig eingesperrt gewesen, ohne dass ich es gemerkt hatte. Ich fühlte mich unglaublich leicht und ohne Ballast. Losgelöst von allem. Fast so, als wäre ich neugeboren. Als wäre ich ein ganz neuer Mensch.

Ausgelassen tobten wir auf dem Bett herum, ließen uns von dem Rausch, der uns beherrschte, mitreißen. Mir liefen die Tränen vor Lachen, und es war mir kaum möglich, leise genug zu sein, dass man meine ungezügelte Begeisterung nicht auch außerhalb meines Zimmer hören konnte. Plötzlich hielt das wilde Tier mitten im Spiel inne, hob seinen Kopf und sah sich um. Es hatte die Ohren zum Lauschen gespitzt, während seine golden schimmernden Augen wachsam die Umgebung absuchten. Mit einem Satz sprang es vom Bett und blieb knurrend in der Zimmermitte stehen, den Blick auf die Ecke zwischen Kleiderschrank und Fenster gerichtet.

»Was hast du? Da ist doch nichts!« Ich hatte mich zu ihm gesellt und redete beruhigend auf es ein – Auch um mich zu beruhigen, denn ich spürte ebenfalls eine seltsame Präsenz, konnte jedoch nichts entdecken. Niemand außer uns war im Zimmer. Um ganz sicher zu sein, kontrollierte ich den Schrank und jeden Ort, der ebenfalls als Versteck hätte dienen können. Doch das Resultat blieb dasselbe. Als ich mich schließlich wieder der Ecke zuwandte, war das Gefühl, nicht allein zu sein, verschwunden. Das wilde Tier gab ein letztes Knurren von sich und kehrte auf das Bett zurück.

Wahrscheinlich war es nichts weiter als meine Fantasie gewesen, die mir Phantome vorgaukelte, und da auch mein imaginärer Freund meinen Gedanken und Gefühlen entsprang, war es nur logisch, dass das weiße Fellknäuel dasselbe wie ich wahrnahm. Jedoch geriet der Vorfall schnell wieder in Vergessenheit, denn mein Herz war noch immer angefüllt, mit einer großen Portion an Glücksgefühlen, die kurz darauf wieder die Oberhand gewannen. Und sie sollten noch tagelang anhalten.

Somnia: Zwischen zwei Welten - Band 1: Der Hüter der ErinnerungenWhere stories live. Discover now