Vom Jäger zur Gejagten

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Unsanft wurde Lillith aus dem Schlaf gerissen, als ein Zugdurchsage ertönte und kundgab, dass sie in wenigen Minuten in Prag ankommen würden. Lillith wusste nicht wie lange sie geschlafen hatte. Der Sonne nach zu urteilen musste es früher Abend sein. Der Schmerz in ihrer Wade hatte nachgelassen. Als sie aus dem Bett stieg und sie auf beiden Beinen stand stach ihr zwar ein Schmerz den Rücken hoch, jedoch nur noch halb so stark wie noch vor wenigen Stunden. Anscheinend arbeite ihre Regeneration doch an der Wunde, sprach sie sich selbst Mut zu. Nur eben verlangsamt. Zu ihrer Enttäuschung war die Lava in ihr nun jedoch nicht mehr lokal im Bein, sondern wieder allgegenwärtig. Aber ignorierbar. Missmutig analysierte sie ihre Lage. Sie wusste nicht bis wohin der Zug fahren würde und fragen wollte sie niemanden . Also beschloss sie auszusteigen und womöglich später in einen anderen Zug umzusteigen, einfach nur um ihre Spuren weiter zu verwischen. Sie fühlte sich immer noch gehetzt und definitiv nicht sicher. Noch wollte sie es nicht wahrhaben endgültig frei zu sein, einfach aus Angst dann doch noch geschnappt und wieder eingesperrt zu werden. Ihr kleines verängstigtes Herz würde das nicht mitmachen. Zudem gingen ihr die Wachmänner nicht aus dem Kopf. Es schien diesen Morgen zu einfach gewesen zu sein wegzulaufen. Irgendwo musste es einen Haken geben...

Nachdem der Zug ratternd zu einem Halt kam, stieg sie bedacht die drei Stufen aus dem Waggon aus. Unzählige fremdartige Gerüche und Geräusche schlugen ihr ins Gesicht. Es wurde eine Sprache gesprochen, die sie nicht verstand. Das war neu. Und Menschen! Überall waren Menschen. Der Bahnhof wimmelte nur so von ihnen. Selbst in diesen etwas kühleren Abendstunden zog es die Menschen auf die Straßen, diese Stadt war voller Leben. Fasziniert und die Nase tief in ihrem Schal vergraben schlüpfte Lillith aus dem Bahnhof. Sie steckte die Hände tief in die Taschen. Es zog sie auf die Straße, gelockt von dem Gewimmel der Menschen. Betont gelassen schlenderte sie auf dem Gehweg entlang und beobachtete neugierig die Menschen um sie herum und wie sie ihren alltäglichen Pflichten nachkamen. Hier war ein Mann der mit wedelnder Hand ein Taxi anhielt. Dort drüben war ein Jogger, der zugleich seinen Hund ausführte. Oh, und auf der anderen Seite schob eine Mutter ihren Kinderwagen. Lillith wurde Zeuge wie der Hund den Jogger mitten im Lauf zu einem Halt riss, an den nächstgelegenden Baum pinkelte, direkt vor der Kinderkarre. Das Kind darin, ein kleines Fäustling tragendes Mädchen, fing an zu lachen. Auch die Mutter schmunzelte und nickte dem Jogger höflich zu, bevor sie weiterging. Lillith war wie erstarrt. So viel Leben in einem Bild. So viel Normalität! Sie konnte gar nicht beschreiben wie diese fremde Stadt auf sie wirkte, doch eines wusste sie mit Gewissheit: es war friedlich hier. Und sie würde diesen Frieden in vollsten Zügen auskosten. Beschwingt drehte sie ihr Gesicht der bereits untergehenden Sonne zu und erfreute sich an den warmen Strahlen auf ihrem Gesicht. Selbst durch ihren Schal konnte sie jene spüren. Wie lange war es her gewesen, dass sie im Tageslicht durch eine Stadt gezogen war? Ein zaghaftes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, versteckt durch den Schal. Sie war in Prag! Sie war zum ersten Mal seit Jahren in einer Stadt ohne einen Auftrag!

Als würde er sich für die mangelnde Aufmerksamkeit beschweren gab ihr Magen ihr lauthals zu verstehen, dass es ihm egal sei wie glücklich sie gerade war, würde er nicht bald etwas zu essen bekommen. Lilliths Grinsen verschwand. Sie hatte Hunger und kein Geld. Oh, und ganz nebenbei war sie auch noch verwundet, fügte sie in Gedanken hinzu. Also nicht unbedingt die beste Ausgangssituation um Essen stehlen zu gehen. Aber selbst solche Situationen hatte sie schon meistern müssen. Lillith sah sie sich um. Dort! Auf der gegenüberliegenden Straßenseite war ein Cafe dessen Duft verführerisch zu ihr hinüber wehte. Es war proppevoll, was wohl für das Cafe sprach und sehr praktisch für Lillith war. Sie würde in der Menge weit weniger auffallen. Ohne Zögern ging sie darauf zu. Nach einem kurzen prüfenden Blick ins Innere des Geschäfts schritt sie an den Tischen und Stühlen vorbei, welche vor dem Cafe aufgereiht standen. Neben der Theke stellte der Konditor das fertige Gebäck servierbereit auf einem Teller und kleinem Tablett auf. Dieses wurde dann von den Kellnerinnen dann an die jeweiligen Gäste verteilt. Ohne weiter Aufsehen zu erregen stellte Lillith sich in der Schlange an. Sie wartete bis der richtigen Moment kam, schnappte sich mit geübten Handgriffen eines der Gebäckstücke vom Teller und wandte sich zur Tür um. Alles ging so schnell, dass selbst die in der Schlange wartenden Gäste um sie herum nichts bemerkt hatten. Das Gebäck, sie wusste noch nicht mal was es für einen Namen hatte, klebte jedoch mehr als Lillith erwartete hatte, weswegen sie davon absah es sich unter die Jacke zu stopfen.
Ein Fehler. Als Lillith zur Tür hinausschritt und noch einmal prüfend zurücksah, bemerkte sie wie eine der Kellnerinnen den leeren Teller sah und sich erbost umschaute. Die in die Jahre gekommene, eher dickliche Dame erspähte Lillith, wie sie geduckt im Türrahmen stand, und zeigte sofort mit einem Wurstfinger auf sie. Verdammt. Adrenalin schoss ihr durch die Adern, während das ignorierte Feuer in ihr zum erneuten Leben erwachte. Eine wütende Flammenhand krallte sich in ihr Herz und ließ sie fast stolpern, als sie erschrocken durch das Stuhlgewimmel vor dem Laden zurückwich. Draußen auf der Straße, hörte sie wie die Kellnerin ihr irgndetwas hinterherbrüllte, konntees aber nicht verstehen. Die Message kam aber an. Ein Dieb! Geduckt versuchte Lillith in der Fußgängerzone unterzutauchen, was sich jedoch mit einer klebrigen Teigware in der Hand und einem Hinken als eher schwierig erwies. Sie fing an zu fluchen als sich noch ein Drehschwindel dazugesellte. Na klasse, sie gab ja einen herausragenden First-Class Assassinen ab, rügte sich Lillith genervt. Ein Hoch auf sie und ihre Diskretion. Langsam machte sich Panik in ihr breit, da Aufmerksamkeit nun wirklich alles andere war was sie wollte. Sie fluchte als sie über die Schulter hinweg sah, wie die dicke Kellnerin doch tatsächlich auf die Straße gerannt kam und sie immer noch im Visier hatte. Was ging bei dieser Frau ab? Schon rannte Lillith, alle Vorsicht und Wunden vergessend, die Straße entlang,vorbeian Läden und Geschäften, kleinen Bars und weiteren Cafes. Ihr Humpeln verstärkerte sich mit jedem Schritt und sie fluchte erneut, diesmal lauthals. Sie verlangte der frischen Wunde zu viel ab, belastete sie zu stark. Natürlich machte sich das bemerkbar! Leute begannen sich schon zu ihr umzudrehen und sie realisierte, dass sie von der Straße wegmusste. Grimmig biss sie die Zähne zusammen und bog in die nächstbeste Seitengasse ab. Wie ein Hase begann sie durch die Gassen Haken zu schlagen, alles um es eventuellen Verfolgern die Jagd schwieriger zu machen. Schon nach kurzer Zeit ging ihr die Luft aus, während das Pochen an ihrer Wade neuste Dimensionen annahm. Der Schmerz verursachte kleine tanzende Funken vor ihren Augen, und inmitten all dem Schmerz eine sengende Lava in ihr, die ihr Herz zu flüssigem Feuer werden ließ und weitere Lava durch ihre Adern pumpte. Jeder Atemzug tat weh und Lillith bog in eine winzige Nebengasse ein und kam keuchend zum Stehen. Außer sich rang sie nach Atem und versuchte die Flammenhand, welche drohte ihre Herz zu versengen, in Schach zu bekommen. Sie musste versuchen sich zu beruhigen. Nur weil sie ein bisschen Aufmerksamkeit erregt hatte, bedeutete dies nicht gleich, dass sie kommen würden. Bedächtig atmete sie ein und aus und nahm ihre Umgebung in Augenschein. Sie war in eine kleine Nebengasse gerannt, welche von kleinen Türen gesäumt wurden, die die hinteren Eingänge zu den umliegenden Reihenhäusern formten. Vereinzelt gab es Blumenkästen, Fahrräder oder Mülltonnen. Das Ende der Gasse mündete in einen kleinen Vorhof, welcher von Häusern umringt war. Eine Sackgasse, verflucht! Lautlos schimpfte Lillith in sich hinein, während sie sich wieder zu Hauptstraße aufmachen wollte. Doch genau in dem Moment, in dem sie sich umdrehte bemerkte sie wie drei Gestalten um die Ecke bogen, hinein in "ihre" Gasse. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und setzte dann zu einem Stakkato an, der an Herzrythmusstörungen glich und sich nur langsam wieder beruhigte. Übelkeit ergriff sie ohne Vorwarnung. Was zur Hölle war nur los mit ihr? Sie musste einen klaren Kopf bewahren. Langsam wich Lillith zurück, tiefer in die Gasse hinein. Uncool, dachte sie sich nur, während sie den Gestalten verdrossen entgegensah. Wenn die drei wegen dem dämlichen geklauten Klebeding in ihrer Hand hier waren , dann sollten sie nur kommen.
Aber warum waren sie zu dritt? Es sah nicht aus als würde die Kellnerin hinter ihnen sein, genauso wenig wie sie die vorderste Person sein konnte, da diese Frau viel zu schlank, hochgewachsen und sportlich war. Auch die beiden Männer, die sie flankierten, waren hoch gewachsen, breitschultrig und sahen aus als wüssten sie wie man kämpft. Dies erschwerte natürlich die Situation. Hatte die Kellnerin statt ihr selber zu folgen die drei beauftragt das zu übernehmen? Es machte in Lilliths Augen keinen Sinn. Trotzdem richtete sie sich zu voller Größe auf, ließ jedoch Schal und Mütze in ihr Gesicht gezogen. Nur ihre Augen waren zu erkennen. Indessen fielen vereinzelte Sonnenstrahlen auf die drei Gestalten, welche aus dem Schatten herausgetreten waren und weiter als undurchdringliche Wand auf sie zugeschritten kamen. Lillith zog erschrocken die Luft ein. Sie hatten Flügel! Alle drei hatten Flügel. Seit wann schickten sie Engel hinter mickrigen Dieben her? War Lillith nun schon so lange unter der Erde gewesen, dass sich selbst das grundlegenste Engelprinzip "Wir sind erhabener als Menschen"-Getue dann doch endlich mal gelegt hatte? Eher aßen Engel Schlamm.

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