Kapitel 2 Der Anfang eines neuen Lebens

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Ian

Er hatte keine Ahnung, wieso er das getan hatte. Wieso? Wieso hatte er sie verwandelt? Was hatte er sich dabei gedacht? Immer und immer wieder quälten den Vampir genau diese Fragen. Immer und immer wieder wusste er auf diese aber keine Antwort. Ob er aus Verzweiflung gehandelt hatte? Ian wusste es nicht. Gut, er war wirklich ziemlich einsam und hatte niemanden, mit dem er wirklich sein Leben teilen konnte. An eine Freundschaft mit einem Menschen war überhaupt nicht zu denken. Und die meisten anderen Vampire? Die konnten ihn zum Großteil nicht sonderlich gut leiden. Das lag vielleicht auch ein wenig an seiner Vergangenheit, aber das würde sich Nightowl nie eingestehen. Doch so verzweifelt, dass er eine vollkommen Fremde, außerdem noch eine Hexe, verwandelte, das konnte der Kerl einfach nicht sein. Sie konnte ihm schließlich auch gefährlich werden. Doch daran hatte der Dunkelhaarige im ersten Moment überhaupt nicht gedacht, nein. Wobei... hätte er es nicht fühlen sollen? Hätte er das nicht irgendwie fühlen oder anders spüren sollen? Stimmte etwas mit ihm nicht? Aber jegliches Kopfzerbrechen half nichts. Dem Vampir war ja ohnehin schon aufgefallen, dass er in letzter Zeit ziemlich zerstreut und eigenartig gewesen war. Nein, in letzter Zeit stimmte auch nicht ganz. Erst seit er nach Paris gegangen war konnte man sagen, dass er sich anders als sonst verhalten hatte. Woran das wohl gelegen hatte? Sein Blick glitt zu Stella, die neben ihm im Bett eines Hotelzimmers lag, in das er die Jüngere gebracht hatte, nachdem sie sich dazu bereit erklärt hatte ihn zu begleiten. Auch die Stadt an sich war wahrscheinlich nicht schuld daran, was der Ältere getan hatte. Es war viel mehr das Mädchen, das ihn allein schon mit ihrer Präsenz um den Verstand gebracht hatte. Ihr Anblick hatte ihm den Atem geraubt, obwohl er doch eigentlich gar nicht wirklich atmen musste, um zu überleben. Dieses Mädchen hatte Ian überhaupt in die Hauptstadt Frankreichs gebracht. Ihre Anwesenheit war für ihn sogar spürbar gewesen, und als er sie erblickte, war es beinahe so gewesen als hätte der Dunkelhaarige sie schon einmal gesehen. Aus reinem Instinkt hatte der Vampir sich das vorbeigehende Mädchen geschnappt und zu sich gezogen. Er hatte die Anziehungskraft, die von Anbeginn zwischen ihnen geherrscht hatte, gespürt. Es hatte so einfach passieren müssen. Niemand, wirklich niemand, hätte das verhindern können. Als die Rothaarige dann erst vor ihm stand, war auch der Geruch wahrnehmbar. Der Geruch ihres Blutes. Es war berauschend. Allein davon waren seine Eckzähne hervorgebrochen und er musste zubeißen, musste sie verwandeln. Und dann? Dann passierte etwas überaus Unerwartetes. Die Hexe brach in seinen Armen zusammen, fiel in Ohnmacht. Damit hatte Ian nun wirklich nicht gerechnet. Es kam auch überaus selten vor, dass jemand, während er diese Person küsste, ohnmächtig wurde. Eigentlich war ihm das so, auf diese Art und Weise, noch nie passiert. Immer noch könnte der gebürtige Brite den Kopf deswegen schütteln. Während er über den vergangenen Tag nachdachte, schlief die junge Frau, oder eher das Mädchen, neben ihm. Das Mädchen, das ihn schon jetzt mehr als nur einmal überrascht hatte. Schließlich hatte den Vampir auch die Tatsache überrascht, dass sie ihre Hexenkräfte behalten hatte. Das war so gesehen nicht möglich. Wie auch immer sie das geschafft hatte, es machte Stella zu etwas sehr Besonderem. Somit war sie die einzige, ihm bekannte, Vampirin, die zaubern konnte, was sie zu einer der stärksten Vampire überhaupt machte. Sie war eine Waffe, die eigentlich nicht in die falschen Hände gelangen durfte. Doch für Ian war nicht nur das besonders, auch ihr Aussehen war es für ihn, genauso wie ihr Name. Stella DuCrainer passte einfach unglaublich gut zu ihrem wunderschönen Gesicht. Automatisch himmelte er die Französin an. Was zur Hölle tat er da?! Begann er etwa wieder etwas zu empfinden? Begann er für die Rothaarige zu empfinden? Doch das war unmöglich! Das war absolut unmöglich! Der Älteste hatte vor einer halben Ewigkeit seine Gefühle abgestellt. Hatte den nervigen Schalter, der für die Menschlichkeit zuständig war, umgelegt. Er wollte auch eigentlich gar nichts mehr fühlen. Aber anscheinend hatte sich dieser Schalter wieder automatisch umgelegt, hatte die Menschlichkeit und all die Gefühle wieder zugelassen. Verdammt, er hätte nie nach Paris gehen sollen. Er hätte Zuhause in London bleiben sollen. Hätte niemals DuCrainer verwandeln und schon gar nicht mitnehmen sollen. Dass Ian das erst jetzt klar wurde, war natürlich überaus ungünstig. Jetzt konnte niemand mehr etwas an ihrer Situation ändern. Jetzt mussten sie es durchziehen. Wieder glitt der Blick des Vampirs zu seiner schlafenden Gefährtin. Nein, nun war es zu spät. Er konnte es weder rückgängig machen, noch konnte der Brite dieses unschuldige Geschöpf einfach auf sich allein gestellt lassen. Vor allem... wer wusste schon, was sie mit ihren Kräften für Schaden anrichten würde? Vermutlich würde sie sowieso als erstes ihre Eltern aufsuchen und diese unabsichtlich töten, wofür sich die Kleine vermutlich ihr gesamtes Leben lang hassen würde. Das konnte der Nightowl ihr nicht antun. Für eine gefühlte Ewigkeit starrten seine schwarzen Augen die Französin mit dem feuerroten Haar an. Im gesamten Zimmer herrschte Stille. Das Einzige, das zu hören war, war der sanfte Atem der Schlafenden. Genau aus diesem Grund schreckte der Ältere beinahe hoch als vor ihrer Tür laute Schritte zu hören waren. Als eine Stimme neben ihm ertönte erschrak Ian endgültig. Seine Augen weiteten sich für eine Sekunde als Stella ein „Morgen!" von sich gab. Doch das wurde schleunigst wieder versteckt. Stattdessen wurde ihr in die eisblauen Augen gesehen und charmant gelächelt. Ja, das Lächeln erreichte auch seine schwarzen Augen, die zu funkeln begannen. Währenddessen begann das pariser Mädchen sich schläfrig zu strecken. „Guten Morgen, mein Stern...", erwiderte der Vampir ohne groß darüber nachzudenken. Ja, es war beinahe so, als würde er sich selbst aus weiter Entfernung genau diese Worte sagen hören. Es rutschte dem gutaussehenden Kerl natürlich einfach so heraus. Das wäre aber bestimmt jedem bei einem solchen Anblick passiert, zumindest versuchte er sich das im Nachhinein einzureden. Denn er war doch eigentlich nicht der Typ, der weich wurde. Schließlich hatte der Brite doch eigentlich auch seinen Menschlichkeitsschalter ausgeschalten. Nein, da wurde man nicht einfach wieder weich, auch wenn es genau das war, was gerade passiert war. Stella DuCrainer, das womöglich stärkste Mädchen dieser Welt, hatte dafür gesorgt, dass er wieder fühlte. Dass er, einer der ältesten Vampire überhaupt, wieder fühlen wollte. Vermutlich wusste sie selbst noch nicht einmal wie mächtig sie war. Wie einzigartig sie war.

Nicht mehr zu retten...Where stories live. Discover now