Kapitel 1 Der Neuanfang

27 2 0
                                    

Stella

Stella DuCrainer war Tochter eines reichen und angesehenen Ehepaars, die ein großes Haus am Stadtrand von Paris besaßen. Das Mädchen war das einzige Kind, das sie je bekommen hatten und auch vermutlich bekommen würden, weswegen die Beiden versuchten, jeglichen Wunsch der Kleinen zu erfüllen. Doch das allein genügte nicht. Denn, obwohl das Kind alle Spielzeuge der Welt besaß, musste es eine Sache sehr vermissen: ihre Eltern. Diese waren nur sehr selten anwesend, weswegen Stella viel Zeit allein verbrachte. Oft beschäftigte sie sich die Tochter also mit sich selbst. Irgendwann geschah es, wie der Zufall es wollte. Um die Rothaarige mit den eisblauen Augen begannen seltsame Dinge zu geschehen. Anfangs fiel es noch nicht einmal wirklich auf. Nein, es waren Kleinigkeiten wie Bälle, die wieder zu Stella zurückrollten, nachdem sie diese geworfen hatte, obwohl das eigentlich nicht sein konnte. Doch diese 'Ereignisse' begannen sich immer mehr zu häufen. Manchmal schwebten ihr sogar einige ihrer Spielzeuge oder auch Teller und Tassen entgegen, wenn sie diese nicht erreichen konnte. Natürlich bemerkte die Kleine nicht wirklich, was genau da mit ihr geschah. Dass sie etwas konnte, was sie eigentlich nicht können sollte. Schließlich war die DuCrainer einfach noch ein Kind. Wie sollte ein Kind so etwas verstehen können? So etwas verstanden schließlich auch genügend Erwachsene nicht. Vielleicht hätten ihre Eltern sie aufklären können, dass etwas mit ihr nicht stimmte, doch mit denen sprach das Mädchen mit den strahlenden roten Zöpfen kaum oder eher gar nicht. Nein, sie behielt all das für sich. Mit wem hätte sie auch sonst darüber reden sollen? Julie und Reneé wollten schließlich nicht, dass ihre Tochter in eine normale Schule ging, weswegen sie Zuhause Einzelunterricht bekam. Mit ihrer Lehrkraft darüber zu sprechen kam schon überhaupt nicht in Frage! Ein Jahr, nachdem die Zauberkräfte das erste Mal erschienen waren, begannen diese sich nicht nur in Form von irgendwelchen Ereignissen zu manifestieren. Nein, auf einmal konnte sie auch Feuer, Wasser und all die anderen Elemente beschwören. Natürlich geschah das nicht auf einmal, sondern viel mehr Stück. Erst kontrollierte die Kleine ein Element und sobald das gut klappte schien sich auch das nächste bändigen zu lassen. Noch immer machte sich das Mädchen keinerlei Gedanken darum, was das nun zu bedeuten hatte. Viel mehr fühlte sie sich besonders und spielte immer häufiger mit ihren Kräften, die sich von Tag zu Tag weiterentwickelten. Es war wie mit jeglichen anderen Talenten oder Hobbys auch. Je mehr Stella übte, umso besser wurde sie darin ihre Zauberkräfte zu kontrollieren. Fast den gesamten Tag über trainierte das Mädchen. Was sollte sie auch sonst tun? Sie war eine Gefangene im Haus ihrer Eltern, welche sie aus Angst kaum nach draußen ließen. Und wenn sie nicht gerade unterrichtet wurde war sie auf sich allein gestellt. Die Rothaarige hatte also weder irgendwelche Freunde noch einen Freund, auch wenn das erste Verlieben mit dreizehn Jahren durchaus normal war. Doch die junge Französin kannte nichts Anderes. Sie kannte nur das große Haus ihrer Familie von innen. Dafür war ihr davon jede einzelne Ecke bekannt. Irgendwann begann die DuCrainer sich aber aus Sehnsucht nur noch eine Sache an ihrem Geburtstag zu wünschen: nach draußen zu dürfen. Dieser Wunsch wurde dem Teenager aber jedes Mal verwehrt. Erst zu ihrem sechzehnten Geburtstag bekam sie, was sie sich doch sehnlichst wünschte. Die Rothaarige durfte endlich für eine Stunde in die Stadt gehen, um diese zu erkunden, wozu sie natürlich keine zweite Einladung benötigte, ehe sie auch schon losstürmte. Das Erste, was sich das junge Mädchen ansehen wollte, war der Hauptplatz, in dessen Richtung sie auch fröhlich spazierte. Doch plötzlich passierte etwas, womit sie nicht gerechnet hatte. Es war etwas, womit wahrscheinlich niemand gerechnet hatte. Sie wurde in eine dunkle Ecke gezogen, bevor sie überhaupt weit gekommen war. Wer hatte sie da gerade von ihrem Weg abgebracht? Ihr Blick glitt suchend durch die Gasse, bis er an einem Jungen hängen blieb, der wohl die einzige andere Person weit und breit zu sein schien. Und dieser Junge sah ziemlich gut aus, das musste sich die Sechzehnjährige eingestehen. Das Bedürfnis ihn nach einem Kuss zu fragen war auf einmal relativ stark, schließlich hatte das Mädchen, das bisher ziemlich abgeschottet aufgewachsen war, noch nie einen Jungen geküsst. Wie so etwas wohl war? Wie sich das wohl anfühlte? Doch diese Fragen wurden ihr auch sogleich beantwortet, denn der Fremde kam näher und beugte sich schlussendlich ein wenig zu ihr hinunter. Danach legte er seine Lippen auf die ihren. Ein kleines Prickeln war zu spüren, wo sich ihre Lippen berührten und der Teenager war kurz davor die Augen zu schließen. Doch als der Junge auf einmal von ihrem Mund abwich, um ihren Hals anzusteuern, verwirrte es sie so sehr, dass Stella die Augen weiterhin geöffnet ließ. Dass bei dem Anderen Fangzähne aufblitzten, ehe er diese in ihrem Hals vergrub, das sah sie leider nicht. Sie spürte nur den kurzen Schmerz, der sie auch direkt ohnmächtig werden ließ. Als das Mädchen wenig später wieder zu sich kam, hatte sie für einen Moment keine Ahnung, was passiert war. Also versuchte sie angestrengt darüber nachzudenken. Da war ein Junge gewesen und er hatte sie geküsst, bis er sie in den Hals gebissen hatte. In dem Augenblick spürte Stella, dass ihr Kiefer ziemlich zu schmerzen begann. Warte,... gebissen? Plötzlich weiteten sich ihre Augen und sie fasste sich automatisch an ihr Kiefer, um zu erkunden, woher der Schmerz kam, ehe sie auch schon an die Stelle fasste, wo sie glaubte gebissen worden zu sein. Und tatsächlich spürte die Rothaarige etwas Feuchtes. Langsam entfernte sie ihre Hand von ihrem Hals um sich anzusehen, was denn da so nass war, und erschrak beim Anblick. Auf ihrer Hand leuchtete scharlachrotes Blut, ihr Blut. Die eisblauen Augen weiteten sich noch ein wenig mehr. Was bei Venus und Mars war hier passiert? Die Kleine konnte sich darauf überhaupt keinen Reim machen. Und dann kam ihr auf einmal ein Gedanke, der sie noch ein wenig mehr erstarren ließ. Waren ihre Kräfte überhaupt noch da? Oder hatte man ihr die mit dieser Aktion geraubt? Natürlich war das ihr erster Gedanke, schließlich würde sie es nicht überleben, wenn man ihr das Einzige genommen hatte, womit sie Zuhause ihre Zeit verbrachte. „Beruhig' dich!", befahl sie sich selbst, ehe sie die Augen schloss, um sich auf den Geruch von Lavendel zu konzentrieren. Die Umgebung nach irgendetwas Bestimmten riechen zu lassen war einer der einfachsten Zauber, die sie kannte, weswegen die DuCrainer diesen auch direkt ausprobierte. Und tatsächlich, ein paar Sekunden später lag der Duft von Lavendel in der Luft, weswegen auch direkt erleichtert ausgeatmet und direkt wieder eingeatmet wurde. Doch dabei stieg ihr auf einmal nicht mehr nur der Geruch ihres Zaubers in die Nase. Ruckartig wurden die Augen wieder aufgerissen, welche direkt den Ursprung des eigenartigen metallischen Duftes suchten und auch ziemlich schnell fündig wurden. Einige Meter hinter ihr lag ein blutiger Körper am Boden. War es also das Blut gewesen, das sie gerochen hatte? Offenbar war dem so. Doch seit wann konnte die Einzelgängerin so etwas riechen? Ein solch starker Geruchssinn war ihr doch recht neu. Warte, war die Person, die da mit ihr in der Gasse tot? Doch diese Frage wurde direkt verdrängt als sie erkannte, wer direkt neben dem reglosen Körper stand. Irgendwie war es ziemlich abstoßend. Was hatte dieser Fremde nur getan? Was hatte er mit ihr getan? Vor allem letzteres war doch eine ziemlich wichtige Frage, denn auf einmal verspürte das Mädchen einen irrsinnigen Drang auf den Körper zuzugehen, um von ihm zu trinken. Das war doch nicht normal! Doch ehe Stella dem Typen sagen konnte, dass er ihr einmal erklären sollte, was hier passierte, sprach dieser. „Komm her und trink, Kleines!", säuselte er mit einem freundlichen und einladenden Lächeln, während er auf den Körper deutete. Als ob sie nur diese Einladung benötigt hatte, begann der Körper der Sechzehnjährigen sich auf die beiden anderen in der dunklen Gasse zuzubewegen. Wie von allein beugte sich die DuCrainer nach unten. Beim starken Geruch von Blut schoss auf einmal ein starker brennender Schmerz durch ihr ganzes Kiefer und sie bemerkte, wie sich etwas an ihren Zähnen veränderte. Und dann passierte es. Die Französin biss zu wie es der Junge bei ihr getan hatte. Sie sog das Blut ein und schloss dabei genüsslich die Augen. Nach einer Weile fühlte sie sich gesättigt und ließ von dem mittlerweile Toten ab. Automatisch wurde über den Mund gewischt, was dafür sorgte, dass nun Blutspuren auf ihrem Handrücken waren, welche sie aber ignorierte. Viel eher war das Mädchen einfach generell geschockt von sich selbst. Was hatte sie getan? Mit großen Augen sah sie den Fremden an, der ihr das alles angetan hatte. Dieser lächelte sie offenbar weiterhin an. „Gut so!", kam es über dessen Lippen. Doch das wurde ignoriert. Viel eher schlich sich eine Frage aus dem Mund der Französin. „Wer bist du?" Ja, wer war er, der ihr Leben auf den Kopf stellte? „Ich bin Ian Nightowl. Tut mir tatsächlich fürchterlich leid, dass ich mich noch nicht richtig vorgestellt habe.", begann der Junge, während man ihm ansah, dass er das auch so meinte wie er es sagte. „Ich weiß, das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber ich bin ein Vampir." Bei diesem Satz sah er die Rothaarige ziemlich prüfend an, als ob er erwartete, dass man ihm nicht glaubte. Doch wieso sollte Stella ihm keinen Glauben schenken, wo sie doch von ihren Fähigkeiten wusste? Wo sie bemerkt hatte, was er mit ihr getan hatte? „Ich... erm... schöner Name?", sagte sie leicht stotternd. „Ich bin Stella, Stella DuCrainer.", wurde schlussendlich noch hinzugefügt. „Das ist aber auch ein hübscher Name!" Der Fremde schenkte dem Mädchen ein Zwinkern. „Doch irgendwas ist da noch, oder?", fragte Ian, der sie die ganze Zeit über musterte. „Ich... woher weißt du das?" Ja, woher wusste er das? Das konnte er doch überhaupt nicht wissen, es sei denn, er konnte Gedanken lesen. Konnte er das womöglich? Die Sechzehnjährige hoffte es zumindest nicht. „Deine Augen, sie verraten dich ein klein wenig.", meinte der Junge wieder zwinkernd. Vorsichtig biss sie sich auf die Unterlippe. „Wie kann so etwas wie Vampire geben?", fragte sie schließlich und senkte dabei kurz den Blick. Und was tat der Typ? Er begann doch tatsächlich zu lachen. Sie war schon kurz davor ihn zu fragen, was denn daran so lustig war als er endlich antwortete. „Wieso sollte es keine Vampire geben, wo du doch eine Hexe bist?", kam seine Gegenfrage mit einem schiefen Grinsen. Woher bei Venus und Mars wusste er denn, dass sie zaubern konnte? Das war die Frage, die sich ihr stellte. „Woher...?", begann die DuCrainer und brach aber direkt wieder ab. „Woher ich das weiß? Ich habe das vorhin mit dem Lavendelduft mitbekommen. Tut mir leid, wenn dir das unangenehm ist! Aber sieh es einmal so, normalerweise verlieren Hexen bei der Verwandlung zum Vampir ihre Hexenkräften für immer. Du hast sie ja noch, wie wir beide bemerkt haben. Also scheinst du wohl etwas ziemlich Besonderes zu sein." Und plötzlich wusste das Mädchen nicht mehr, was sie darauf antworten sollte. War das etwa ein Kompliment? Sie konnte es nicht sagen. Wäre Stella jemand gewesen, der rot wurde, dann wäre sie es jetzt auf jeden Fall geworden. Etwas Besonderes. Sie war etwas Besonderes. Doch auch besondere Menschen mussten wieder zurück nach Hause! Genau dieser Gedanke kam der Kleinen in genau diesem Moment. Offenbar sah man es ihr an, dass sie Angst hatte, ihre Eltern könnten sich schon Sorgen machen. „Du weißt, dass du als Vampir nie wieder zu deiner Familie zurückkehren kannst? Sie würden bemerken, dass du nicht mehr alterst.", kam es von ihrer neuen Bekanntschaft, die sie traurig anlächelte. „Außerdem ist das Risiko, dass du einen von ihnen beißt, zu groß, vor allem am Anfang." Tatsächlich machte diese neue Information, die doch in gewisser Weise einleuchtete und von der sie ganz tief in ihrem Inneren auch gewusst hatte, dass sie da war, traurig. Beinahe hätte die Sechzehnjährige geweint, hätte heiße Tränen über ihre Wangen fließen lassen, doch sie hielt sich zurück. Nein, sie wollte vor Ian nicht weinen. Sie wollte ihm nicht zeigen, wie verletzlich sie gerade war. Gerade ihm wollte die vermutlich Jüngere es nicht zeigen, schließlich kannten sie sich nicht einmal richtig. Sie kannte vielleicht seinen Namen und er ihren, aber mehr war da nicht. Die bis an diesem Tag Gefangene hatte keine Ahnung, wieso er das mit ihr gemacht hatte, hatte keine Ahnung woher er kam und was er jetzt mit ihr vorhatte. Dagegen wusste er doch relativ viel von ihr, wenn sie genauer darüber nachdachte. Vielleicht sollte sie zumindest Fragen stellen? Doch dann kam noch eine Aussage von Nightowl, mit der sie nicht gerechnet hatte. „Du musst also wohl oder übel mit mir mitkommen, wenn du jemanden willst, der dir bei deinen ersten Schritten hilft." Was?! Sie musste... was?! Er wollte sie also nicht nur aus ihrer Familie reißen, nein, sondern auch komplett entführen. Was dachte der sich denn, wer er war?! Ihr Mund klappte auf, doch kein Laut kaum heraus. Die DuCrainer war stumm wie ein Fisch. Irgendwie schaffte sie es nicht überhaupt etwas von sich zu geben in diesem Moment. Der Typ musste sich eigentlich ziemlich verarscht vorkommen, wobei er sich davon nichts anmerken ließ, wenn es so sein sollte. Und dann, dann schaffte sie es endlich etwas zu sagen. „Was soll das?! Ich komme sicher NICHT mit dir mit!" Ja, der Teenager rastete aus wie es eben nur Teenager konnten. Natürlich musste es so kommen. Sie war ja beinahe noch ein Kind. Wie konnte er also einfach so verlangen, dass sie mit ihm kam? Doch der Vampir schien das recht amüsant zu finden. „Ich habe dich verwandelt, du gehörst also eigentlich sogar zu mir." Was bei Jupiter und Uranus redete er da?! Sie gehörte zu ihm? „Nein! Da habe ich doch auch ein Wörtchen mitzureden, oder nicht?!", regte sich das junge Ding weiter auf. Ian schmunzelte vor sich hin. „Das steht aber so im Vampir-Kodex. Ich kann dir den bei Gelegenheit gerne einmal zeigen." Die Rothaarige schnaubte und raufte sich die Haare. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Doch das war es ja leider. Wieso konnte es nicht einfach ein böser Traum sein? Wieso musste das jetzt ihr Leben sein? „Kann ich mich denn wenigstens von meinen Eltern verabschieden?", fragte sie schlussendlich bedrückt und auch ein wenig flehend. Jetzt wirkte der Fremde wieder ein wenig traurig. „Nein, sie würden dich doch bestimmt nicht gehen lassen." Und damit lag er wahrscheinlich richtig. Sie würden ihre Tochter bestimmt nicht gehen lassen, nicht einfach so. Und auch nicht, nachdem sie diese so behütet hatten bis zu diesem schicksalhaften Tag. Wieder wurde das Mädchen unendlich traurig und dieses Mal konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. Eine einzelne Träne bahnte sich ihren Weg über ihre Wange, ehe sie an ihrem Kinn nach unten tropfte. Für einen Moment wurden die Augen geschlossen. „Dann lass uns gehen, wo auch immer du hinmöchtest.", kam es über ihre Lippen, was aber kaum ein Flüstern war. Als Stella ihre Augen wieder öffnete, stand der Junge direkt vor ihr. „Hab' keine Angst, ich passe auf dich auf!" Das waren seine letzten Worte ehe sie gemeinsam aufbrachen. Ab diesem Tag war das Mädchen also die einzige Vampirin mit Zauberkräften. Dass sie außerdem die Begleitung einer der ältesten Vampire war, das wusste die Rothaarige zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das Einzige, das sich in ihr breit machte, war unendliche Trauer darüber ihre Eltern für immer zu verlieren und diese nun endgültig nicht mehr sehen zu können.

Nicht mehr zu retten...Where stories live. Discover now