Kapitel 7 - Alte Wunden

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Es war wie ein Dolchstoß direkt in mein Herz – Dieser eine Satz. Ein Geheimnis, dessen ich mir gar nicht mehr bewusst war. Bis zu diesem Moment. Eine qualvolle Erinnerung, an ein anderes Ich. Ein Ich, das ich nicht mehr war und nie wieder sein wollte. Schon längst verblasst. Wie ein Spiegelbild im Wasser, in das ein großer Stein geworfen wurde, so das es genügend Wellen gab, die das vorherige Abbild in alle Richtungen zerstreuten. Doch nun hatte sich die Wasseroberfläche beruhigt und mein altes Ich tauchte wieder vor mir auf. Wie vieles anderes auch.

Langsam, aber beharrlich, krochen die Erinnerungen aus den tiefen Nebeln des Vergessens zurück an die Oberfläche und nisteten sich in meinem Kopf ein. Somit hielt ich meine ersten Puzzleteile in den Händen. Schlüsselmomente zu meinem früheren Leben. Dort wo alles seinen Anfang nahm.

Und einmal zum Vorschein gekommen, gab es kein zurück mehr. All das löste in mir eine Lawine aus, die unaufhaltsam immer mehr an Fahrt gewann. Ich spürte, wie mein Kopf mit Bildern gefüllt wurde, die wie Blitze aus gleißendem Licht, immer wieder für einen kurzen Moment vor meinem inneren Auge erschienen. Die Flut an plötzlichen Informationen bereitete mir Kopfschmerzen und Unbehagen.

»Siehst du, deine Erinnerungen kommen wieder langsam zurück«, sagte der Tod zufrieden. »Kämpfe nicht dagegen an, auch wenn es im ersten Moment vielleicht etwas unangenehm ist. Lass es einfach zu! Mit der Zeit wird es leichter werden und du wirst es kaum noch mitbekommen.«

Ich folgte dem Rat des Tods und versuchte mich abzulenken, in dem ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Annabelle und meine Mutter lenkte, während weiterhin Fragmente aus meinem bisherigen Leben auf mich hereinstürzten.

Noch immer stand meine Mutter wie ein angriffslustiger Tiger, der jungen Krankenschwester gegenüber, jeder Zeit bereit, gnadenlos über ihre wehrlose Beute herzufallen. Und bevor Annabelle ihr erneut etwas entgegnen konnte, preschte sie nach vorne und fuhr mit kühlem Tonfall in der Stimme fort. »Versuchen sie es gar nicht erst, Kindchen! Wie lange kennen sie ihn? Ein paar Minuten? Ein paar Stunden? Ich bin seine Mutter, ich weiß genau was das Problem ist. Was ihn krank gemacht hat.«

»Aber sich im falschen Körper zu fühlen, ist doch keine Krankheit«, versuchte Annabelle erneut einen Vorstoß. Abfällig schaute meine Mutter die Schwester an.

»Sie finden es also völlig normal, wenn ein gesunder, junger Mann, plötzlich den Wunsch hegt, eine Frau zu werden?«

Verzweifelt suchte die Schwester nach den passenden Worten. Doch wer meine Mutter kannte, wusste, dass das beste Gegenargument, selbst wenn es von einem Gelehrten gekommen wäre, ihre Meinung nicht geändert hätte. Sie hatte ihren Standpunkt und davon konnte sie niemand und nichts mehr abbringen. Sie war ein unbelehrbarer Sturkopf – Genau wie mein Vater. Nur das dieser in vielen Dingen hartnäckiger als sie war und seine Ansichten auch mit schmerzhaften Methoden durchsetzte. In der kleinen, heilen Welt meiner Eltern, innerhalb ihrer wohlbehüteten Dorfgrenzen, gab es nur schwarz und weiß. Und eine Entscheidung wie meine, wurde auf keinen Fall für gut geheißen. Was ich über die Jahre, auch immer wieder zu spüren bekam.

Doch meine Mutter war nicht immer so. Früher war sie sanft und liebevoll, der komplette Gegenpol zu meinem Vater. Doch in den letzten Jahren hatte sie davon immer mehr verloren. Den verbliebenen Rest, als mein Vater starb.

»Sehen sie ihn sich doch an!«, begann meine Mutter, ohne die Antwort von Annabelle abzuwarten. »Wenn da nicht seine sogenannten Freunde gewesen wären, die ihm diese Flausen ins Ohr gesetzt haben, dann wäre alles noch so wie früher und ich würde jetzt nicht hier stehen. Und für diesen absurden Wahn hat er alles aufgegeben – Seine Familie, seine Beziehung, sein Leben. Mein Mann und ich haben wirklich alles versucht, dass es nicht soweit kommt. Haben alles versucht, ihn von diesem Weg abzubringen.«

Somnia: Zwischen zwei Welten - Band 1: Der Hüter der ErinnerungenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt