Einundzwanzig

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Dhalia || 》29.12.17《 ||

"Guten Morgen, Dhalia"

"Guten Morgen, Mrs. Fray", ich reichte meiner Therapeutin die Hand und betrat ihr Büro.
In der Mitte des Raumes befand sich ein kleiner Tisch, um den zwei Stühle gestellt waren, auf denen wir beide Platz nahmen.

Mein Herz klopfte plötzlich wie wild und ich hatte das Gefühl, dass mein Körper stark zitterte.
Was war nur los mit mir?
Das war doch nicht einmal meine erste Sitzung bei Mrs. Fray, warum also bin ich so nervös?

"Wie geht es dir? Du warst lange nicht mehr hier.", ihre Worte unterbrachen meinen Gedankenfluss, sodass ich mich wieder auf sie konzentrierte.

"Äh gut, schätze ich und Ihnen?", man erkannte deutlich, dass ich vollkommen neben der Spur war und auch meine Therapeutin hob bei meinen Worten ungläubig eine Augenbraue.

"Mir geht es bestens, danke der Nachfrage. Ich bezweifle jedoch stark, dass es dir heute gut geht, sonst wärst du nicht hier, richtig?", sie hatte recht. Mir ging es vollkommen beschissen und ich konnte mir selbst nicht erklären warum.
Ich fühlte mich komplett ausgelaugt. Erschöpft.
Damit meinte ich nicht diese Art von Erschöpfung, die man beispielsweise nach dem Sport verspürte.
Ich fühlte mich seelisch erschöpft und die Tatsache, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich damit umgehen sollte, deprimierte mich.
Es ist nicht einmal irgendetwas vorgefallen, was meinen jetzigen Zustand begründen würde, außer vielleicht, dass mich meine Albträume beinahe verrückt machten.

Plötzlich stiegen mir Tränen in die Augen, die ich erfolglos versuchte wegzublinzeln.

"Dhalia, rede mit mir. Was ist passiert?", sie schaute mich mitfühlend an und reichte mir ein Taschentuch.

"Ich weiß nicht.", schluchzte ich und schüttelte den Kopf.

"Erzähl mir was du grade fühlst.", sie warf mir einen besorgten Blick zu und wartete geduldig auf meine Antwort.

"Ich... ich fühle mich irgendwie vollkommen leer. Irgendwie fühle ich nichts und dennoch zieht sich etwas in meiner Brust mit jedem Atemzug zusammen. Ich weiß nicht einmal woran das liegt!", sie hörte mir aufmerksam zu und schrieb ab und zu etwas in ihr Notizbuch.
"Das komische an all dem ist jedoch, dass gestern noch alles in Ordnung war.
In der Nacht hatte ich aber wohl wieder ein Albtraum, da ich von Ella und James geweckt wurde, die mich panisch fragten, warum ich denn geschrien habe.
Ich erinnere mich aber an nichts.
Und seit heute morgen ist mir nur noch nach weinen zu mute. Ich fühle mich müde und gestresst und weiß, dass diese Empfindungen nicht durch etwas Schlaf verschwinden.
Ich weiß einfach nicht mehr was ich machen soll...", erneut rollte mir eine Träne über die Wange, die ich mit meinem Taschentuch wegwischte.
Zum ersten Mal seit langem sprach ich das aus, was mir auf dem Herzen lag und was ich wohl unbewusst verdrängt hatte und merkte, wie sich mein inneres lockerte.

"Denkst du, dass es nur an deinen Albträumen liegt? Oder hat es eventuell noch andere Gründe?", womöglich trägt meine leichte Paranoia wegen meines Stalkers auch etwas zu der Situation bei.
Auch wenn ich es nur ungerne zugebe, aber ich hatte Angst.
Angst vor ihm, wer auch immer er ist, Angst davor, was er geplant hat und davor, was noch so auf mich zukommt.

Sollte ich Mrs. Fray erzählen, dass mich jemand beobachtet?

'Wenn er das herausfindet, wird es nicht gut enden, das weißt du doch oder?', meldet sich mein Unterbewusstsein zu Wort und ich konnte dem gesagten nur zustimmen. Es hatte recht. Wenn er das erfährt, wird wahrscheinlich jemand leiden und das würde ich nicht ertragen.
Da opfere ich mich lieber selbst.

"Dhalia?", verdammt ich bin schon wieder zu sehr in meinen Gedanken versunken gewesen.

"Oh tut mir Leid. Zu Ihrer Frage: ich denke nicht, dass es nur an meinen Albträumen liegt. Womöglich macht es mich innerlich immer noch fertig, dass ich jegliche Erinnerungen an mein bisheriges Leben verloren habe.
Oft wirken meine Träume so real, dass ich wirklich glaube, alles in diesem Moment zu erleben. Dann frage ich mich immer, ob es denn nicht sein könnte, dass es nicht nur Träume, sondern vergangene Erlebnisse sind.", meine Antwort war zwar nicht gelogen, aber dennoch war sie nicht vollständig.
Die Angst vor meinem Stalker machte viel aus und wenn ich mir hätte sicher sein können, dass er niemanden etwas antut, würde ich Mrs. Fray alles erzählen.
Aber naja, ich durfte ihn auf keinen Fall unterschätzen.

"Interessant.", sagte sie nachdenklich und stützte ihr Kinn auf ihrer Hand.
"Das heißt also theoretisch, dass deine Träume so etwas wie Visionen sind. Wenn wir die Szenarien nachstellen, erinnerst du dich vielleicht klar und deutlich an das Geschehen. Somit würden wir deiner Vergangenheit ein Stückchen näher kommen. Wie findest du die Idee?", schlug sie vor und beobachtete mich aufmerksam.

Die Erinnerungen an meine bisherigen Träume kamen wir wieder in den Sinn und liefen mir wie ein kalter Schauer über den Rücken.
Ich erinnerte mich daran, wie mich viele Personen beleidigten, ich sei doch nichts Wert, ich solle doch verrecken gehen und daran, wie man mir an den Kopf warf zu fett zu sein.
Ich erinnerte mich, wie ich mich selbst in einem Traum sah und musste dadurch wieder an den heftigen Streit zwischen dem Ehepaar denken. Ich kann jetzt noch die kalte und leidende Spannung spüren, die in der Luft herrschte.
Und das waren nicht einmal alle Träume, die ich hatte.
Das komische an alldem war jedoch, dass die in meinen Träumen vorkommenden Personen nie ein klares Gesicht hatten. Man konnte deren Körperbau, wie auch deren Stimmen klar erkennen, doch über deren Gesichter war praktisch ein Schleier, sodass nichts erkennbar war.
Vielleicht lag das aber auch daran, dass mein Unterbewusstsein sich noch an alles, was deren Erscheinungsbild betraf, erinnern konnte, außer an deren Gesichter.

War ich aber bereit dazu, diese Albträume in die Realität umzusetzen, nur um meiner Vergangenheit näher zu kommen?

"Und? Ziehen wir es durch?", fragte sie nochmal und lächelte mich breit an.
Ich ließ mir alles durch den Kopf gehen und nach einem kurzen Augenblick antwortete ich ihr schließlich.

"Okay."

"Okay.", wiederholte sie, setzte sich aufrecht hin und verschränkte ihre Hände auf ihrem Schoß.

Hoffen wir mal, dass ich diese Entscheidung nicht bereuen werde.

AmnesiaWhere stories live. Discover now