Alte Leute haben immer recht!

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Am nächsten Morgen saßen Jensen und ich am Frühstückstisch. Ich war extra früh aufgestanden und hatte Brötchen für uns besorgt, sowie etwas Wurst und Käse beim Supermarkt, direkt um die Ecke. Seit dem Gespräch am gestrigen Tag war die Stimmung etwas gekippt. Scheinbar machten wir uns beide Gedanken über die Zukunft. Ich mochte diesen Mann wirklich sehr. Er war witzig, fürsorglich, verständnisvoll, intelligent und unglaublich höflich. Er war im Grunde der perfekte Schwiegersohn.
„Ist es okay für dich, wenn ich mich nachher mit einem Freund treffe?", fragte Jensen und biss in sein Brötchen.
„Du bist ein freier Mann.", entgegnete ich und lächelte. „Du kannst kommen und gehen, wann du willst.".
Jensen grinste daraufhin kauend und schluckte dann den Bissen herunter. „Ich frage nur, weil ich dein Gast bin und es vielleicht unhöflich rüber kommt, wenn ich mich jetzt einfach mit einem Freund treffe.".
„Quatsch.", meinte ich. „Geh ruhig.".
„Okay.", entgegnete Jensen und wollte einen Schluck von seinem Kaffee nehmen, als er innehielt. „Ach, du weißt nicht zufällig welcher Zug nach Waco fährt? Und woher ich ein Zugticket bekomme?".
Verwundert runzelte ich die Stirn. „Waco? Was willst du denn in Waco?".
„Mein Kumpel wohnt in Austin und wir dachten, wir könnten uns treffen, da ich ja gerade im Land bin. Da keiner von uns drei Stunden fahren möchte, treffen wir uns in der Mitte. Also in Waco. Das sind dann bloß etwas mehr als eine Stunde für jeden von uns.", erklärte er.
Ich hatte während seiner Erklärung von meinem Brötchen abgebissen und entgegnete nun mit vollem Mund: „Wieso willst du denn mit dem Zug fahren? Du kannst doch mein Auto nehmen.".
„Wirklich?", fragte er überrascht und trank einen Schluck aus seiner Tasse.
„Klar.", erwiderte ich und schluckte den Bissen hinunter. „Was meins ist, ist auch deins.".
Jensen lächelte. „Gut zu wissen. Oh-.", er zuckte etwas zusammen, als sein Handy klingelte, das er in seine Jeanstasche gesteckt hatte. Er fischte es heraus und blickte auf das Display. „Tut mir leid.", nuschelte er und hob dann das Handy etwas in die Höhe. „Da muss ich dran gehen.". Indem schob er den Stühl zurück, stand auf und verzog sich in das Wohnzimmer – eine höfliche Geste.
Ich wollte nicht lauschen. Wirklich nicht. Aber ich konnte nichts dafür, dass Jensen ziemlich laut sprach und ich problemlos alles mithören konnte. Außerdem war das Wohnzimmer direkt nebenan.
„Hey, Kumpel.", begrüßte er denjenigen auf der anderen Seite. „Was gibt's? Hast du es dir anders überlegt?". Kurze Stille. „Jetzt schon?... Ich frühstücke gerade mit Phie... Du weißt schon... Ja.". Er seufzte. „Ja, okay. Dann mache ich mich auf den Weg... Okay... Ja, bis gleich.". Indem legte er auf und kam wieder zurück. Mit entschuldigter Miene sah er mich an. „Tut mir leid, Phie. Das war Jared. Er will sich jetzt schon in Waco treffen.".
Ich zuckte mit den Schultern und lächelte. „Kein Problem. Wie gesagt, du kannst das Auto nehmen, wenn du willst. Der Schlüssel ist irgendwo in meiner Handtasche.", meinte ich und deutete Richtung Flur, dort wo ich die Tasche achtlos neben die Garderobe geworfen hatte.
Jensen nickte, eilte in den Flur und kam mit dem Schlüssel wieder. Mit schnellen Schritten ging er um den Küchentisch herum und gab mir einen langen Kuss auf meine Lippen. „Danke. Bis später.", hauchte er, drückte mir noch einen Kuss aufs Haar und wandte sich dann zum Gehen.
„Fahr vorsichtig!", rief ich ihm hinterher.
„Immer doch!", erwiderte er und dann fiel die Tür ins Schloss.
Lange saß ich nicht mehr am Frühstückstisch. Ich aß mein Brötchen auf, trank meinen Kaffee aus und räumte dann die Lebensmittel in den Kühlschrank und das Geschirr in die Spülmaschine. Nicht wirklich wusste ich, was ich mit dem angebrochenen Tag machen sollte. Erst dachte ich darüber nach eine Runde joggen zu gehen... das Problem war nur, es war Sport. Was hätte ich nicht alles lieber als Sport gemacht? Es fielen mir tausend Dinge ein.
Tatenlos wollte ich den Tag nicht verbringen. Also begann ich Staub zu saugen. Dann putzte ich mein Badezimmer, daraufhin wischte ich Staub und dann putzte ich meine Fenster. Gleich danach tauschte ich das verdreckte Wasser gegen neues aus, schnappte mir einen Wischmop und begann den Hausflur zu putzen.
Gerade war ich mit meiner Etage fertig, als meine Nachbarin aus ihrer Wohnung trat, die genau gegenüber von meiner lag. Die alte Dame war stets freundlich zu mir gewesen. Wenn ihre Kinder und Enkel zum Kaffee kamen, brachte sie mir oft zwei, drei Stücke Kuchen hinüber, damit ich "mal etwas auf die Rippen bekam". Ansonsten war sie der Stereotyp einer Großmutter. Kurze, lockige, weiße Haare, ein faltiges, rundes Gesicht, eine kleine Lesebrille, die ihr stets auf die Nasenspitze rutschte und Kleidung mit Blümchenmuster, gehörten zu dieser Frau wie Butter zu einem Toast.
„Guten Morgen, Ophelia.", begrüßte mich die alte Dame und lächelte.
„Morgen, Mrs. O'Connell.", erwiderte ich und wrang den Mop über dem Eimer aus.
„Dieser gutaussehende, junge Mann, war das Ihr Freund?", fragte Mrs. O'Connell und zwinkerte mir zu. Dann knöpfte sie ihre Jacke zu. Scheinbar wollte sie gerade irgendwo hin gehen.
„Ja.", bestätigte ich. „Jensen, ist sein Name.".
„Oh.", machte die alte Frau und schloss mit ihren zittrigen Fingern ihre Wohnungstür. „So würde jetzt meine Tochter heißen, wenn sie ein Junge geworden wäre.".
„Wirklich?", fragte ich überrascht.
„Ja.", lachte Mrs. O'Connell leise. „Mein Mann hatte ja was dagegen. Dieser alte Sturkopf.".
Ich erinnerte mich noch an ihren Ehemann. Ein großer, kahlköpfiger Kerl. Meistens ziemlich mürrisch, aber er meinte es nie böse. Das war eben bloß seine Art gewesen. Ein paar Tage nachdem ich in diese Wohnung gezogen war, hatte er einen Herzinfarkt erlitten und starb im Krankenhaus. Schon immer hatte ich das als schlechtes Omen aufgefasst.
„Ist er bei Ihnen schon eingezogen?", riss mich die alte Dame aus den Gedanken.
Ich lächelte. „Nein.", entgegnete ich. „Das wird etwas schwierig.". Ihrem Blick nach zu urteilen war diese Antwort für sie nicht zufriedenstellend. Also erklärte ich es ihr: „Also Jensen ist, oder besser gesagt war ein guter Freund von meinem Bruder Dustin. Nach seinem Tod hat er sein Haus gekauft. Er ist also von Dallas nach North Bay gezogen. Und das ist für uns jetzt etwas schwierig, da wir beide unser Leben nicht aufgeben wollen. Außerdem würde ich Jensen umbringen, wenn er Dustins Haus verkaufen würde.".
„Und wieso ziehen Sie nicht zu ihm?", fragte Mrs. O'Connell. „Immerhin hat er schon ein Haus. Und so schlimm ist Kanada nicht, meine Liebe.".
„Schon.", meinte ich. „Doch ich habe mir hier alles aufgebaut. Mein anderer Bruder lebt hier mit seiner Frau und seinem Baby. Ich habe hier meinen Job, meine Freunde. Ich habe hier alles... Und irgendwie macht es mir Angst alles aufzugeben.".
Mrs. O'Connell seufzte und trat mit einem Lächeln näher an mich heran. Inzwischen hatte ich den Mop an die Flurwand gelehnt. Die alte Dame schob ihre Brille etwas zurück und griff dann nach meiner Hand. Liebevoll drückte sie sie und tätschelte sie einmal.
„Wissen Sie.", begann sie mit einem Lächeln. „Ich bin schon ziemlich alt und jeder weiß, alte Leute haben immer recht.". Ich schmunzelte, doch sie ließ sich nicht aufhalten: „Und Sie können mir glauben, wenn ich sage, wenn etwas zusammengehört, dann kommt es zusammen und bleibt es auch für immer. Also machen Sie sich keine Sorgen. Sie müssen nur Ihrem Herzen folgen und nichts anderem.".
Wieder lächelte ich. Sie hatte recht. Natürlich hatte sie recht. Alte Menschen hatten immerhin ständig recht! Es war ein Axiom!
Plötzlich riss mich mein Festnetztelefon aus den Gedanken. „Entschuldigen Sie, Mrs. O'Connell.", meinte ich und verzog entschuldigt das Gesicht.
„Das ist schon in Ordnung.", versicherte die alte Dame und löste sich von mir mit einem Lächeln. Ihre knochigen Finger griffen nach dem Geländer. „Bis bald, meine Liebe.", verabschiedete sie sich, ohne zurückzublicken und stieg mit wackeligen Beinen die Treppen hinunter.
Ich wandte mich von ihr ab, ging mit dem Eimer und dem Wischmop hinein und griff gleich zum Telefon. „Ophelia Winchester.", meldete ich mich und schloss daraufhin die Wohnungstür.
„Hey, Phie.", ertönte die fröhliche Stimme meines Bruders von der anderen Seite. „Wie geht es meiner Lieblingsschwester?".
„Gut.", entgegnete ich lächelnd. „Und wie geht es dir? Und deiner Familie, natürlich?".
„Fantastisch... Na ja... Fast.", erklärte er. „Heather, Brandon Matthew und ich sind gerade aus dem Krankenhaus gekommen. Der Kleine schreit wie am Spieß. Ich fürchte, er wird gar nicht mehr aufhören.".
Ich schmunzelte. „Das wird schon.", beruhigte ich ihn. „Ist Heather also wieder fit?".
„So ziemlich. Nach dieser Infusion ging es ihr deutlich besser. Sie darf sich jetzt nur nicht überanstrengen und muss noch einen Mundschutz tragen, wenn sie zu Brandon Matthew geht.".
„Okay.", sagte ich knapp, da Alec sofort weiterredete.
„Weshalb ich anrufe: Wir wollen am Wochenende eine Babyparty schmeißen. Also als eine Art Willkommensparty für den Kleinen. Rolf und Lydia haben schon zugesagt. Ihr, also du und Jensen, seid natürlich auch herzlich eingeladen... Wenn das Wetter gut wird, feiern wir im Garten und grillen.".
„Hmmm... hört sich großartig an.", meinte ich. „Wenn Jensen wieder da ist, werde ich ihn fragen, ob er mitkommen möchte.".
„Wieso? Wo ist er denn? Hattet ihr Streit?".
„Nein.", meinte ich und schmunzelte über die Besorgnis meines großen Bruders. „Er ist nur zu einem Freund gefahren, mit dem er sich treffen wollte. Wahrscheinlich kommt er erst heute Abend wieder. Aber ich werde dich auf jeden Fall anrufen, wenn ich weiß, ob er mitkommt.".
„Okay.". Indem hörte ich im Hintergrund meinen kleinen Neffen schreien. Alec seufzte ins Telefon hinein. „Ich muss jetzt Schluss machen.".
„Ich weiß, ich höre es schon.", lachte ich. „Bis dann, du Super-Daddy.".
„Bis dann, Phie.".

Wie Rome und JuliaWhere stories live. Discover now