Der fremde Freund

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Man hätte sagen können, es war das perfekte Wetter für eine Beerdigung: Kalt, grau und etwas stürmisch. Aber konnte jemals etwas an einer Beerdigung perfekt sein? Das ist paradox, nicht? Es war aber nun einmal so, wie man es sich in den großen Hollywood-Filmen vorstellte – ein eisiger, düsterer Dezembermorgen, keine zwei Tage vor Weihnachten. Der Himmel war grau und versprach, dass es bald anfangen würde zu schneien. Ein eisiger Wind peitschte über ganz Kanada und natürlich musste es ausgerechnet in North Bay am kältesten sein!
Der kahlköpfige Pfarrer beendete das Gebet, tröpfelte etwas Weihwasser auf den haselnussbraunen Sarg und klappte dann seine kleines, schwarzer Lederbuch zu. Er schob sich seine riesige Brille, die ihm zur Nasenspitze gerutscht war, wieder mit einem Finger in die richtige Position und öffnete dann die alte, morsche Holztür, die sich neben dem kleinen Podest befand. Ein eisiger Windstoß ließ sein schwarzes Gewand flattern. Er klammerte sich an seinem Buch fest und trat mit langsamen Schritten hinaus auf den Friedhof. Indem setzte die Orgel ein und erfüllte die kleine Kapelle mit einer melancholischen Melodie.
Die sechs Träger hoben den schweren Sarg mit einer emotionslosen Miene hoch, wie ich es noch nie gesehen hatte. Es war erstaunlich mit welcher Resignation sie hinaus gingen und dem Pfarrer folgten, wie ein unsicherer Welpe.
Neben mir erhob sich mein großer Bruder. Mit seinen großen, dunklen Augen und den strubbeligen, dunkelblonden Haaren ähnelte er mehr unserem Vater, als unserer Mutter. Ich hingegen kam mehr nach meiner Mum. Als ich zu ihm aufsah, bemerkte ich die Tränenspuren auf seinen Wangen, die in seinem Drei-Tage-Bart endeten. Er wischte sich einmal mit einem zerknüllten Taschentuch über die rötliche Nase und steckte es dann in die Tasche seiner schwarzen Anzughose.
„Na komm, Phie.", murmelte er und sah zu mir herunter. Er reichte mir seine große Hand, die ich nur zu gerne nahm und mir hochhelfen ließ. Ich konnte den Tod unseres kleinen Bruders immer noch nicht verstehen. Er war mit vierundzwanzig Jahren einfach zu jung! Er hätte noch sein ganzes Leben vor sich gehabt! Der Schock saß immer noch in meinen Knochen. Meine Knie fühlten sich weich an und so war ich froh, dass Alec mir Halt bot.
Ich hatte keine Zeit zum Überlegen. Alec zog mich hinter sich her. Wir beide waren die ersten, die hinter den Sargträgern die kalte Kapelle verließen, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatte. Obwohl ich einen dicken, schwarzen Mantel trug, bekam ich gleich eine Gänsehaut, als uns der eisige Wind entgegenpeitschte und mein Gesicht schmerzen ließ. Daher war ich froh, dass Alec ein hohes Maß an Empathie besaß und gleich seinen Arm um mich schlug, der mich an seinen warmen Körper presste. Dankend atmete ich aus und heftete meinen Blick auf die vielen Gräber, die links und rechts an uns vorbeizogen. Der weiße Frost auf den vielen Blumen bestätigte, dass es tiefster Winter war.
Hinter uns hörte ich Tante Annie, die mit ihrem Mann über die Schönheit dieses Friedhofs sprach. Ich wusste nicht, ob es etwas schönes an einem Friedhof gab. Immerhin war es die letzte Ruhestätte geliebter Menschen und somit nichts, was ich mit Schönheit in einen Zusammenhang bringen konnte. Aber ich entschied, dass Annie die Schönheit eines Friedhofs mit der Lage und der Pflege in Verbindung brachte.
Der Friedhof lag etwas außerhalb der Stadt, wenn man in diesem ländlichen Gebiet überhaupt von "Stadt" reden konnte. Für mich hatte dieses altmodische Städtchen eher etwas von einem kleinen Seelendorf, das man nur bei der Durchreise passierte. Aber ich wusste, dass mein kleiner Bruder diese Stadt liebte und somit stand bereits an seinem Todestag fest, dass er genau hier beerdigt werden würde. Jegliches Mosern von Tante Annie wurde von Alec und mir ignoriert. Ich hingegen konnte die Liebe nie nachempfinden, die mein kleiner Bruder zu dieser Stadt pflegte. Dafür hatte ich mich viel zu sehr an Dallas gewöhnt.
Als der Pfarrer schließlich vor einem riesigen Loch stehen blieb und geduldig wartete, bis sich alle Trauernde um ihn versammelt hatten, bildete sich ein Kloß in meinem Hals. Mit Trauer umzugehen war noch nie meine Stärke gewesen. Und als ich auf den Grabstein blickte, der hinter dem Grab meines Bruder stand, flossen wieder die Tränen. Der Arm um meiner Taille drückte mich noch dichter an Alec. Nur halb gekam ich mit, wie der Pfarrer ein Gebet sprach.
Ich war nie gläubig gewesen, weshalb ich die Gesten der anderen einfach imitierte. Auch als mein großer Bruder und ich an das Loch traten, in das nun der Sarg versenkt worden war, faltete ich einfach meine geröteten Hände und senkte den Blick, ließ einige Sekunden verstreichen und trat dann beiseite, damit sich alle anderen verabschieden konnten.
Alec schob mich an den Rand. Ich schluchzte und vergrub mein Gesicht an seiner Brust. Mir war egal, dass auf seinem weißen Hemd Spuren von Tränen und Make-Up zu sehen war – ihm erging es genauso. Er hielt mich, versuchte mich zu trösten, aber wir wussten beide, dass die Wunden noch zu frisch waren. Indem fing es an zu schneien. Dicken, weiße Flocken fielen vom Himmel. Sie verfingen sich in meinen schokobraunen, langen Haaren.
Meine Tränen versiegelten etwas. Ich wusste, wie sehr mein kleiner Bruder Schnee geliebt hatte und wie gerne er draußen gewesen war, wenn eine dicke Schneeschicht über dem ganzen Land lag. Irgendwie schien dies Schicksal zu sein, dass genau in diesem Augenblick der Schneefall eingesetzt hatte. Es ließ mich lächeln, auch wenn meine Augen feucht von den Tränen waren.
Unser Großonkel riss mich aus den Gedanken. In seinen weißen, kurzen Haaren waren die Schneeflocken gar nicht zu sehen. Er breitete seine Arme aus und zog mich in eine Bärenumarmung, in die ich mich nur zu gerne fallen ließ.
„Ist doch schön, dass es anfängt zu schneien.", meinte er mit kratziger, dunkler Stimme. „Das hätte er so gewollt.".
Ich schniefte und löste mich von ihm. Als Bestätigung nickte ich nur.
„Komm her, Großer.", wandte sich mein Großonkel nun an Alec und zog auch ihn in eine Umarmung. Aufmunternd klopfte er ihm einmal auf den breiten Rücken. Dann richtete er sich wieder an uns beide. „Bleibt ihr noch länger hier?".
Ich wollte antworten, doch Alec war schneller: „Wir fliegen in drei Tagen wieder zurück nach Dallas.".
„Dann habt ihr doch bestimmt Lust uns noch zu besuchen.", meinte mein Großonkel mit einem sanften Lächeln und sah uns fragend an.
Ich dachte an sein zu Hause, das er sich mit seiner Frau teilte: Eine alte, gemütliche Jagdhütten mitten im Wald, nicht weit von North Bay entfernt. Schon früher war ich gerne zu dieser Hütte gegangen, obwohl ich nicht der ländliche Typ war. Es hatte etwas magisches, wenn sie alle auf der großen, hölzernen Terrasse saßen und die bunten Nordlichter bewunderten, die sich über den schwarzen Himmel zogen.
Als Zustimmung nickte ich.
„Wir haben momentan auch einen Gast.", offenbarte unser Großonkel und schien in der Menge der Trauernden jemanden zu suchen. „Ein Freund von eurem Bruder.".
Einen Freund? Wieso wusste ich nichts davon? Ratlos sah ich Alex an, der allerdings genauso verwundert war. Anscheinend kannte er diesen Freund auch nicht. Ich blickte mich um, in der Hoffnung, dass ich diesen Freund identifizieren könnte, ohne ihn jemals getroffen zu haben. Plötzlich erweckte ein Mann meine Aufmerksamkeit, der die Blicke meines Großonkels auffing und sich dann durch die dunkle Menschenmasse quetschte, um zu uns zu gelangen. Ich kannte ihn nicht. Ich war mir auch sicher, ihn noch nie im meinem Leben getroffen zu haben.
Wie viele andere Männer trug er einen einfachen, schwarzen Anzug und eine schwarze Krawatte. Sein weißes Hemd war beinahe so weiß wie der Schnee, der bereits in einer dünnen Schicht auf dem Friedhof lag. Er hatte kurze, dunkelbraune Haare und einen leichten Bart, der einen dunklen Schatten warf. Älter als Mitte Dreißig konnte er nicht sein. Ich wusste nicht wieso, doch sogleich schoss mir durch den Kopf, dass dies wohl der schönste Mann war, den ich bisher getroffen hatte – zumindest vom Äußerlichen.
„Das ist Jensen Ackles.", erklärte unser Großonkel, als der große Fremde bei uns ankam, der nun einen Namen hatte. Sogleich reichte er erst meinem großen Bruder die Hand. Dann mir.
„Ophelia.", krächzte ich und wunderte mich über meine viel zu hohe Stimme. Aber diese grünen Augen lösten eine gewisse Nervosität in mir aus. Ich war froh, dass Alec Jensen schnell ablenkte und dieser sich an meinen großen Bruder wandte.
„Woher kannten Sie meinen Bruder?", fragte er interessiert.
Jensen räusperte sich und steckte seine Hände locker in die Hosentaschen. „Wir haben vor ein paar Jahren mal zusammengearbeitet. Nur wenige Monate, aber wir behielten nach dem Drehschluss den Kontakt.".
Alec nickte. „Und woher kennt ihr euch?", bohrte er weiter und sah zwischen meinem Großonkel und dem Grünäugigen hin und her.
„Ich hatte Dustin vor einiger Zeit mal hier in North Bay besucht.", erklärte Jensen. „Er musste noch etwas aus der Jagdhütte holen und so haben wir uns kennengelernt.".
„Und damit er sich dieses schäbige Hotel in dieser Stadt nicht antun muss, habe ich angeboten, dass er ein paar Tage bei uns bleiben kann.", fügte mein Großonkel hinzu.
„Woher kommen Sie denn?", fragte Alec erneut und setzte die Inquisition fort. Was sollte das werden? Ein Verhör? Jensen schien es jedoch überhaupt nichts auszumachen und beantwortete auch diese Frage mit großer Gelassenheit.
„Aus Dallas.", sagte er zu unserer Überraschung.
„Dallas?", wiederholte Alec erstaunt. „Wir-.", er deutete erst auf mich, dann auf sich. „kommen auch aus Dallas. Wieso hat Dustin nie etwas von Ihnen gesagt?".
Jensen konnte nur mit den Schultern zucken. „Er hat auf jeden Fall sehr viel von Ihnen geredet.", entgegnete er und warf mir einen wissenden Blick zu. Ich fühlte mich gleich entblößt, als hätte er all meine Geheimnisse gekannt. Meine Nervosität stieg weiter an und ich hoffte, bald erlöst zu werden. „Er hat zu Ihnen aufgesehen.", erklärte er weiter und wandte sich wieder an Alec. „Mehr als zu irgendjemanden sonst.".
Alec entlockte dies ein sanftes Schmunzeln. Ja, das hatte Dustin getan. Zwar hatte er auch zu mir aufgesehen, doch Alec hatte seinen größten Respekt gehabt. Erneut wurden mir Tränen in die Augen getrieben. Schnell wischte ich sie weg.
Ein kurzes, bedrückendes Schweigen lag in der Luft. Dann fasste sich unser Großonkel ein Herz und verabschiedete sich von uns. Den Freund unseres kleinen Bruders zog er mit sich und beide verschwanden in den Trauernden.

Wie Rome und JuliaTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang