Zu besuch bei Großonkel Rolf

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Es war Dustins Haus, das wir für die nächsten Tage bezogen. Immherin mussten wir einen Käufer finden, auch wenn es mir das Herz brach. Nichts von Dustins Sachen wollte ich verkaufen. Weder den großen SUV, noch das Haus, die Möbel, ja gar seine alberne Comicsammlung, die auf dem Dachboden als Staubfänger diente. An allem haftete eine Erinnerung, die ich bis ans Ende meiner Lebzeiten behalten wollte.
Es war nicht schwer sich in seinem Haus wohl zu fühlen. Es lag etwas abseits der Stadt, in einer ruhigen Seitenstraße. Die Gegend war perfekt um eine Familie zu gründen und dort alt zu werden. Die Kriminalitäsrate war niedrig. Schulen, Kindergärten, Einkaufsmöglichkeit und vieles mehr war in wenigen Minuten zu erreichen. Außerdem blickte man von der großflächigen Terrasse direkt auf den riesigen Wald, in dem unser Großonkel seine Jagdhütte hatte.
Als ich am nächsten Morgen in dem Bett des Gästezimmers aufwachte, streckte ich mich noch einmal völlig verschlafen unter der warmen Daunendecke. Ich hörte, dass Alec schon wach war und in der unteren Etage, in der Küche hantierte. Wahrscheinlich machte er Frühstück. Wer wohl in ein paar Monaten in diesem Bett aufwachen wird, fragte ich mich. Hätte ich gekonnt, so hätte ich dieses Haus gekauft, obwohl ich meine kleine Mietwohnung in Dallas liebte und niemals von dort wegziehen wollte. Aber ich konnte es mir nicht leisten hier zu wohnen, obwohl das Haus komplett abbezahlt war und lediglich jeden Monat die Nebenkosten bezahlt werden mussten. Hätten Mum und Dad noch gelebt, dann hätten sie dieses Haus sicherlich gekauft. Meine Großtante und mein Großonkel waren glücklich in ihrer Jagdhütte, auch sie würde dieses Haus nicht kaufen wollen. So blieb nur noch Alec, doch er hatte sich mit seiner Ehefrau erst kürzlich ein kleine Ranch gekauft, wo sie bald ihr erstes Kind erwarten würden.
Seufzend rappelte ich mich auf und schlufte im Pyjama die Holztreppe hinunter und schielte in die gemütliche Küche, die in einem freundlichen Sandton gehalten wurde. Wie ich erwartet hatte, bereitete Alec gerade frische Pancakes zu. Auch er stand noch in seiner Schlafkleidung da, die aus einem alten T-Shirt und einer Boxershorts bestand. Seine Haare standen ihm wirr um den Kopf. Als ich mich an den Esstisch setzte, wirbelte er herum.
„Morgen, Phie.", begrüßte er mich. Seine schwarze Hornbrille war von dem Dampf etwas beschlagen, doch man konnte  trotzdem seinen müden Blick erkennen.
„Morgen.", erwiderte ich. „Warum bist du denn schon so früh auf?". Ein Blick auf die Wanduhr verriet mir, dass es gerade einmal halb neun war. Alec zuckte allerdings lediglich mit den Schultern und wandte sich dann wieder den Pancakes zu.
„Ich konnte nicht schlafen.", erklärte er. Dann ließ er den fertigen Pancake aus der Pfanne direkt auf einen kleinen Turm weiterer Pancakes rutschen, machte die Herdplatte aus und kam dann mit dem Teller der duftenden Köstlichkeiten auf den Tisch zu. „Wollen wir heute Großonkel Rolf besuchen?", fragte er und schnappte sich zwei Teller und Besteck aus den Küchenschränken, ehe er sich neben mich setzte.
„Klar.", meinte ich nur. Ich war immer noch nicht ganz wach. Mit einem Schlafzimmerblick schob ich mir resigniert ein Stück Pfannkuchen in den Mund und musste mal wieder feststellen, dass mein großer Bruder den Beruf als Koch nicht verfehlt hatte.
„Wie findest du eigentlich diesen Jason?", fragte er, stand auf und öffnete den Kühlschrank, um eine Flasche Orangensanft herauszuholen. Er lauschte, während er zwei Gläser aus dem Schrank kramte.
„Jensen.", verbesserte ich ihn.
„Stimmt. Jensen.".
„Na ja.", begann ich und musste gleich an diese stechenden, grünen Augen denken, die mir eine Gänsehaut verpasst hatten. „Er scheint ganz nett zu sein.".
„Findest du es nicht komisch, dass wir nie von ihm gehört haben?", fragte Alec nun mit gerunzelter Stirn und stellte die zwei vollen Gläser auf den Esstisch.
„Hm.", machte ich und trank einen Schluck, ehe ich antwortete. „Ich kenne ja auch nicht all deine Freunde.".
„Schon.", meinte er und setzte sich wieder. „Aber die wichtigsten. Außerdem scheint er uns ja erwähnt zu haben. Selbst Rolf kennt ihn und hat ihn sogar zu sich eingeladen, da muss er ja ein sehr guter Freund von Dustin gewesen sein.".
Ich zuckte nur mit den Schultern. „Wer weiß das schon?", erwiderte ich. „Immerhin fand ich es nett, dass er bei der Beerdigung dabei war.".
„Ja.", kommentierte Alec nur. Sein Blick wanderte gedankenverloren hinaus. Der Himmel hatte sich verdächtig dunkel gefärbt. Es hatte gestern den ganzen Tag bis zu frühen Abendstunden geschneit. Würde es wieder anfangen, so hätten wir in diesem Haus festgesessen, bis der Schnee etwas geschmolzen wäre. „Wir sollten bald losfahren.", bemerkte mein Bruder deshalb und nahm den letzten Bissen seines Pancakes.
Ich nickte nur.
„Ich geh mich schon mal anziehen und duschen.", meinte er mit vollem Mund und verschwand aus der Küche.
Keine zwei Stunden später bogen wir in den verschneiten Waldweg ein. Dustins SUV war dafür glücklicherweise perfekt geeignet. Zwar wurden Alec und ich ziemlich durchgeschüttelt, aber die Federung dieses Wagens war deutlich besser als die unserer Autos. Es dauerte etwas bis wir Großonkels Jagdhütte sehen konnten, immerhin lag sie mitten im Wald. Seit Jahren war ich nicht mehr hier gewesen, doch es war immer noch genauso, wie ich es in Erinnerung hatte.
Der SUV hielt genau vor der Veranda an, auf der immer noch der alte Schaukelstuhl stand, auf dem Alec, Dustin und ich schon als Kinder gespielt hatten. Die Jagdhütte hatten ihren alten Charme nicht verloren. Sie lockte dazu sich ins Innere zu begeben und es sich vor dem Kaminfeuer gemütlich zu machen.
Kaum stiegen wir aus, vernahm ich das vertraute Geräusch einer Axt, die Holz zerschlug. Großonkel Rolf musste wohl wieder neues Holz für den Kamin hacken. Neben der Hütte hatte er sich extra einen Unterstand gebaut, wo er das Holz lagern konnte.
Ohne vorher hinein zu gehen, schielten Alec und ich um die Ecke. Der Anblick verschlug mir fast den Atem, auch wenn es ziemlich klitscheehaft war, wie Jensen Ackles mit einem schwarz-rot karierten Holzfällerhemd, schwarzer Hose und schwarzen Schuhen schwitzend das Holz hackte. Die Ärmel hatte er hochgekrempelt, sodass seine Muskeln bei jedem Axthieb zu sehen waren. Dieses gottliche Szenario hatte allerdings ein schnelles Ende, als Alec ihn mit einem freundlichen "Guten Morgen" begrüßte.
Jensen hielt inne und sah keuchend auf. Als seine müden Augen uns erkannten, hellte sich sein Gesicht etwas auf und er lächelte. Um seine Augen herum bildeten sich dabei leichte Fältchen. Er hievte die schwere Axt locker über seine Schulter und kam mit großen Schritten auf uns zu.
„Schön, dass Sie da sind.", keuchte Jensen und reichte jedem von uns die Hand. Als sich unsere Händen berührten schien ein elektrischer Schlag durch meinen Körper zu fahren. Ich schluckte dieses Gefühl jedoch schnell wieder herunter.
„Sie können uns ruhig duzen.", meinte Alec, freundlich wie er war.
Jensen nickte kurz. „Gleiches gilt für mich.", erwiderte er und deutete dann mit dem Daumen auf die Hütte. „Lydia wollte gerade heiße Schokolade machen. Wir sollten schnell reingehen, bevor Rolf alles wegtrinkt.".
Obwohl Alec und ich schmunzelten, wusste ich, dass es ihm – genauso wie mir – ziemlich befremdlich vorkam, wie vertraut Jensen mit den Eheleuten zu sein schien. Wahrscheinlich lag es an seiner charmanten Art, die jeden dahinschmelzen ließ. Trotzdem folgten wir ihm als er um die Hütte herumlief, auf die Veranda stieg und im Inneren verschwand.
Auch in der Hütte sah es noch genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Der Kamin brannte in der hintersten Ecke. Davor stand die alte, dunkle Couch, die in U-Form zum Feuer stand und mit den vielen weichen Kissen zum Hinsetzen einlud. Links davon befand sich Großtante Lydias Küche, die lediglich aus einem Zwei-Platten-Kochfeld, einem Minikühlschrank und einer Spüle bestand. Wenn sie beispielsweise etwas schneiden musste, tat sie dies an dem kleinen Küchentisch, an dem vier Leute Platz fanden. Das Ehebett der beiden versteckte sich in der zweiten Etage. Es führte bloß eine schmale Wendeltreppe hinauf auf die Plattform, wo neben dem Bett noch ein großer Kleiderschrank stand. Ein Gästebett wurde geschickt in einem Schrank versteckt, sodass mehr Freiraum war. Nicht so schön war die Toilette, die sich nicht in der Hütte befand. Sie stand draußen, in einem kleinen Häuschen, ohne automatische Spülung, sodass man mit einem Wassereimer nachspülen musste – der einzige Harken an diesem Paradies.
Ich seufzte selig, als ich Lydia sah, die in ihrer Küche stand und gerade kleingehackte Schokolade in einen Topf voller heißer Milch schüttete. Sie blickte auf, als sie uns Besucher bemerkte und schenkte uns gleich ihr herzliches Lächeln, das alle Herzen erwärmte.
„Da seid ihr ja.", begrüßte sie uns entzückt und kam mit offenen Armen auf uns zu. „Kommt in meine Arme, ihr Mäuse.". Wir hatten nicht lange zum Überlegen. Schon hatte sie uns beide in den Armen und drückte uns einen Kuss auf die Wange, wie sie es schon immer getan hatte. Aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie Jensen die Axt an die Wand gelehnt hatte und das Schauspiel mit zufriedener Miene beobachtete. Es war mir etwas peinlich, doch ich konnte der alten Frau nicht böse sein.
Hinter uns wurde plötzlich die Tür geöffnet und Großonkel Rolf stand im Raum. Indem löste sich Lydia von uns und stattdessen zog uns ihr Ehemann in eine Umarmung. Die feinen Schneeflocken auf seiner dunkelblauen Weste verrieten, dass es wieder angefangen hatte zu schneien.
„Nicht schon wieder.", stöhnte Alec genervt. „Langsam reicht es mit dem Schnee.".
Rolf schmunzelte und ließ uns los. „Das wird bestimmt gleich wieder aufhören.", meinte er.
„Genau.", ertönte es nun von seiner Frau. „Setzt euch erst mal hin und trinkt eine heiße Schokolade.".

Wie Rome und JuliaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt