Klein ist die Welt

99 6 0
                                    

Wieder endlose Gänge und Türen. Aber Alec schien genau zu wissen, wohin er ging. Mit einer erstaunlichen Zielstrebigkeit ging er voraus und führte uns wenig später in das Zimmer 1014. Es war ein Zweibettzimmer mit Ausblick auf das kleine Wäldchen, das an dem Krankenhaus angrenzte. Das erste Bett war leer. Es schien auch seit Tagen keiner mehr darin gelegen zu haben. In dem Zweiten lag meine Schwägerin.
„Hey, Süße.", hauchte Alec und war mit einem Satz neben ihr, um ihr einen zarten Kuss auf den Kopf zu drücken.
Ihre langen, pechschwarzen Haaren waren fettig und hingen in Strähnen herunter. Ihr Gesicht war leichenblass und ihre Augen schienen gerötet zu sein. Auf der Haut war eine leichte Schweißschicht zu sehen. Der blau-weiße Kittel, den alle Patienten trugen, war zerknittert. Trotzdem lächelte sie, als sie uns erblickte, bis ihr Blick auf Jensen fiel. Sie runzelte die Stirn und blinzelte ungläubig.
„Jensen?", fragte sie kleinlaut und richtete sich etwas auf. Sie formte ihre Augen zu Schlitzen. „Jensen Ackles?".
Wir waren inzwischen an ihrem Bett angekommen. Ich blickte verwirrt zu Jensen, der direkt neben mir stand. Er schien ziemlich überrascht zu sein. Das spiegelte immerhin sein erstaunter Blick wider. Erst dachte ich, sie könnte ihn aus dem Fernsehen kennen. Immerhin war er Schauspieler. Da passierte es schon mal, dass man erkannt wurde. Aber Jensens Blick war komisch, beinahe als würde er geradewegs in seine Vergangenheit blicken. Und so war es auch.
„Heather Steward?", erwiderte der Schauspieler.
„Na ja.", meinte Heather und hob ihre Hand an, um dem Schauspieler ihren Ehering zu präsentieren. „Jetzt Heather Winchester".
„Moment mal, ihr kennt euch?", warf Alec in die Runde und fuchtelte mit seinen Händen herum.
Jensen und Heather nickten beide gleichzeitig.
„Von der Highschool.", erklärte Heather knapp.
„Und ich kann mich daran erinnern, dass wir nicht gerade im Guten auseinander gegangen sind.", brummte Jensen entschuldigt und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
„Nein.", meinte Heather. Mit der Erinnerung an vergangene Tage schien ihre Miene traurig zu werden. Doch schnell schüttelte sie diese Traurigkeit ab und wandte sich an alle Besucher mit ihrem typischen "Heather-Lächeln". „Ich würde euch ja alle umarmen, aber-.".
„Ist schon okay.", unterbrach sie Rolf mit einem Lächeln. „Wir verstehen das schon.".
„Okay, noch einmal zurück zu eurer Highschool-Geschichte.", lenkte Alec das Thema wieder darauf. „Was genau ist passiert?". Alec schien nicht eifersüchtig zu sein. Das war auch sehr untypisch für ihn. Aber er war neugierig – und da war er nicht alleine. Auch mich interessierte die Geschichte, woher genau sich die beiden kannten und wie ihre Wege sich getrennt hatten. Ich nahm mir vor Jensen auszufragen, sollte das nicht gleich hier geklärt werden. Doch das musste ich gar nicht. Die beiden ließen sich darauf ein, die Geschichte zu erzählen.
Jensen und ich setzten uns auf das freie Bett, das neben Heathers stand. Rolf und Lydia hatten sich zwei Stühle geschnappt. Und Alec saß auf der Bettkante, neben seiner Ehefrau.
„Also-.", begann Heather. „Wir waren auf der Highschool. Jensen war eine Stufe über mir. Wir hatten uns auf einer Party kennengelernt.".
„Oh, diese Party.", murmelte Jensen reuevoll und bedeckte voller Scham sein Gesicht mit einer Hand. Aber er schmunzelte.
Heather lächelte leicht. „Die wird wohl keiner so schnell vergessen.. Na ja, auf jeden Fall wurden wir beste Freunde. Aber ungefähr bloß für ein Jahr.", erzählte sie. „Dann hatte ich mich in Jensen verliebt und jeder weiß, dass das Gift für eine Freundschaft sein kann, wenn diese Liebe bloß einseitig ist.".
Verständnisvoll nickte ich. Davon konnte ich praktisch ein Lied singen.
Heather erzählte weiter: „Auf jeden Fall habe ich es ihm dann nach einigen Monaten gestanden.".
„Ich war geschockt.", warf er ein.
„Und trotzdem meintest du, du würdest die Gefühle erwidern. Du hast mich sogar daraufhin geküsst.", wandte sich Heather an den Schauspieler, der daraufhin den Kopf senkte und ihn schüttelte.
„Ich weiß selber nicht, was ich mir dabei gedacht habe.", offenbarte er kleinlaut. „Ich schätze, ich hatte Panik und einfach Angst meine beste Freundin zu verlieren.".
Unweigerlich schoss mir das Bild des sechszehnjährigen Jensen in den Kopf. Ich erinnerte mich, ein paar Fotos von ihm aus dieser Zeit an den Wänden des Wohnzimmers gesehen zu haben. Und ich stellte mir vor, wie er die junge, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alte Heather in den Armen hielt und küsste. 
„Auf jeden Fall war ich so unglaublich glücklich.", fuhr Heather fort. „Immerhin war er meine erste Liebe... Aber ich habe schnell gemerkt, dass Jensen nicht das selbe für mich empfand, wie ich für ihn.".
„Wieso? Was ist passiert?", fragte Alec neugierig.
Heather seufzte und lächelte leicht. „Wir waren bei einem Freund auf einer Hausparty. Ich hatte mich mit einigen Freundinnen unterhalten und bekam nicht mit, wie er mit irgendeinem Mädchen ins nächste Zimmer verschwand.".
„Daisy McGrey.", erinnerte sie Jensen. „Oh man... Das fällt wohl in die Kategorie 'Jugendsünden'.".
Heather grinste ihn an und nickte. „Stimmt, Daisy McGrey... Sie war wirklich schlimm.", stimmte sie ihm zu. „Was hattest du dir nur dabei gedacht?".
Jensen lachte und schüttelte mit dem Kopf. „Ich habe keine Ahnung!", rief er aus. „Gar nichts, denke ich.".
„Würde ich auch so sehen.", erwiderte Heather. „Du hättest jede nehmen können und du nimmst ausgerechnet Daisy McGrey?".
„Ich weiß, ich weiß.", lachte Jensen und verdeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Dann nahm er sie wieder runter. „Na ja, aber hinterher ist man immer schlauer.", fügte er hinzu.
„Und dann?", fragte ich nach. So langsam wurde ich ungeduldig.
„Oh, ich bin dann nach einiger Zeit durch das Haus gelaufen und habe ihn gesucht.", fuhr Heather fort. „Gefunden habe ich ihn dann im Schlafzimmer von den Eltern des Gastgebers. Und den Rest könnt ihr euch ja denken. Auf jeden Fall haben wir uns danach nie wieder gesehen.".
„Und es tut mir immer noch leid.", meinte Jensen, nachdem Heather die Geschichte beendet hatte.
Heather schüttelte den Kopf. „Ich hätte es besser wissen müssen. Du warst schon immer ein Frauenheld gewesen. Ich wette, du bist heute noch einer.".
Auf jeden Fall, dachte ich stumm. Welche Frau konnte schon diesen grünen, großen Augen widerstehen? Oder diesem perfekten Zahnpastalächeln? Oder den süßen Sommersprossen?
Jensen aber lachte nur und schüttelte mit dem Kopf. „Nein, nein.", winkte er ab. „Loyalität steht in meiner Prioritätsliste ganz oben.".
„Freut mich zu hören.", erwiderte Heather und deutete dann zwischen ihm und mir hin und her. „Was ist eigentlich zwischen euch? Seid ihr beide...", sie ließ den Satz in der Luft hängen und formte ihre Augen zu Schlitzen.
Ich erschrak etwas. Ja... was war eigentlich zwischen uns? Wir waren nicht zusammen... nicht offiziell. Wir hatten bloß einmal Sex und hatten uns geküsst. Aber wir verhielten uns nicht wirklich wie ein Paar, bloß wie gute Freunde. Gute Freunde mit gewissen Vorzügen.
„Ähm.", machte Jensen und blickte mich mit großen Augen an. Ihm schien es wie mir zu gehen.
„Also-.", setzte ich an und war froh, dass in diesem Augenblick die Oberärztin in das Zimmer kam und keiner mehr gespannt auf mich blickte.
Die junge Ärztin mit der Hornbrille und den kurzen, blonden Haaren hielt eine Infusionsflasche in den Händen. „Guten Tag.", grüßte sie in die Runde, während ihr Blick auf ein Klemmbrett gerichtet war. „So, für Sie Mrs. Winchester gibt es jetzt noch eine Infusion und danach ist hoffentlich das Fieber weg.", meinte die Ärztin mit einem russischen Akzent und blickte dann auf. Sie ließ ihren Blick von Rolf zu Lydia wandern und von Alec zu Heather, ehe sie bei Jensen stehen blieb. Ihre Wangen färbten sich etwas rot und sie lächelte verlegen... So viel zu "Jensen war kein Frauenheld".
Die Ärztin riss ihren Blick von dem attraktiven Schauspieler los und legte die Nadel. „Wahrscheinlich werden Sie ziemlich schläfrig werden. Aber das wollen wir so. Am besten Sie versuchen zu schlafen, damit der Körper besser gegen die Viren ankämpfen kann.".
Rolf erhob sich daraufhin. „Wir wollten eh los.", meinte er. „Wir müssen noch ins Hotel und einchecken.".
„Ihr seid sofort vom Flughafen hierher gekommen?", fragte Alec überrascht und stand vom Bett auf.
Lydia stand ebenfalls auf. „Wir konnten es doch gar nicht erwarten den Kleinen zu sehen.", erklärte sie lächelnd und strich einen Fussel von ihrer hellen Jeanshose.
Nun erhoben auch Jensen und ich uns. Die Ärztin verabschiedete sich und war im nächsten Augenblick auch schon aus dem Zimmer verschwunden. Wie ein Schatten. Klamm und heimlich. Die Verabschiedung folgte ebenfalls ziemlich rasch. Alec versprach uns – falls wir den kleinen Brandon Matthew nicht so oft besuchen konnten – Bilder zu schicken und uns auf dem Laufenden zu halten. Er erzählte auch, dass der Stinker schon morgen, oder spätestens in ein paar Tagen, mit nach Hause durfte. Wahrscheinlich würde man so lange warten bis Heather wieder völlig gesund war und ebenfalls die Heimreise antreten konnte.
Und ehe wir uns versahen waren wir auch schon aus dem Krankenhaus raus. Rolf und Lydia kehrten zum Hotel zurück und Jensen und ich setzten uns in meinen, kleinen Wagen und fuhren zu meiner Wohnung.

Wie Rome und JuliaWhere stories live. Discover now