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Dalis stand vor einem großen Wandspiegel; sie konnte sehen, dass sich hinter ihr nichts als graue Fläche befand. Ihr eigenes Gesicht sah ihr entgegen.

Die kurzen, honigblonden Haare, die grüngrauen Augen. Sie hatte keine Schminke aufgetragen.

Ihr Herz setzte für einen Moment aus, als ihr eigenes Spiegelbild plötzlich anfing zu sprechen. Oder eher sie anzuschreien.

„Warum kannst du nicht sein, wie die anderen?!" Erschrocken machte sie einen Schritt zurück, aber ihr Bild folgte ihr nicht. Es redete weiter, als wäre es eine ganz andere Person.

„Warum habt ihr mich allein gelassen? Ich habe doch nichts getan. Ich kann diese Regeln nicht einhalten. Ich kann mich nicht anpassen. Weil ich es nicht bin. Warum habt ihr mich alleingelassen?"

Sprachlos starrte Dalis sich selbst an. Die Worte drangen überdeutlich in ihre Ohren und ließen ihren Kopf dröhnen. Es war, als würde ihre eigene Wahrheit sich in ihr Bewusstsein bohren.

„Warum bin ich allein? Warum ist diese Welt so...gezwungen?!"

Ihr traten Tränen in die Augen. Doch ihre Stimme schrie erbarmungslos weiter.

„Ich kann das nicht! Ich bin es nicht! Woher soll ich wissen, wer ich stattdessen bin?"

Was sollte das hier sein? Schon wieder ein Traum wie neulich? Aber es war irgendwie anders, fühlte sich anders an...fast real. Dalis gab es auf, sich das Wasser aus den Augen zu wischen. Sie ließ es einfach laufen.

Zum ersten Mal wurde sie mit ihrer eigenen Traurigkeit konfrontiert, die sie all die Jahre in sich getragen und unterdrückt hatte.


„WIESO BIN ICH ALLEIN?!" Sie schrie es gleichzeitig mit dem Spiegelbild und brach zusammen.

„Du bist doch nicht allein!", fügte sie gleich darauf hinzu. Eine enorme Last machte sich auf ihren Schultern breit.

„Aber Papa hat mich zurückgelassen. Und er ist nie wieder gekommen, er hat mir die Schuld dafür gegeben, dass Mama tot ist!", konterte ihre Stimme.

„Mama ist tot?!"

Es waren ihre Gedanken. Es war das, was ihr immer wieder durch den Kopf gegeistert war, schon damals in der Grundschule des Internats. Als ihr Vater öffentlich für tot erklärt wurde. Es war kompletter Schwachsinn, sowas zu glauben, aber sie hatte es nicht verhindern können. In Wirklichkeit hatte sie Ellen Summer niemals zu Gesicht bekommen. Es waren immer nur sie und ihr Vater und die alten Fotos gewesen. Es tat weh.

„Es tut mir Leid."

Dalis hatte sich noch nie so unsagbar traurig und hilflos gefühlt. Sie hatte sich selbst immer als emotional stabil eingestuft - was ein Irrtum das war. Sie konnte vieles vielleicht für eine bestimmte Zeit verdrängen, aber es holte sie immer wieder ein. Die Einsamkeit. Die unterschwellige Ablehnung.

„Ich wünschte, ich könnte irgendwas daran ändern", sagte sie leise zu ihrem Spiegelbild. „Aber ich kann es nicht." Sie zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. „Das Einzige, was mir jetzt noch übrig bleibt, ist mit der Vergangenheit abzuschließen."

„Aber wie soll ich das denn machen?!" Die Panik war deutlich hörbar.

„Hör doch einfach auf, darüber nachzudenken." Diese Worte waren wie die Antwort auf eine viel zu oft gestellte Frage. Und sie waren so leicht, so unkompliziert. Sie konnte aufhören, sich über jeden Mist unnötige Gedanken zu machen.

Das Klischee *on hold*Where stories live. Discover now