#3

60 2 6
                                    

„Dalis, das ist die Abteilung für die älteren Schüler."

So überrascht war Dalis gefühlt noch nie gewesen, als sie auf dem Weg zur Bibliothek an einem Gang für Sachbücher stehen geblieben war.

Melanie, das Mädchen, dass niemanden ohne nötigen Vorwand ansprach und eine rätselhafte, unbeschreibliche Aura besaß, war direkt hinter ihr aufgetaucht.

Für einen Moment stand Dalis einfach nur der Mund offen.

„Was?", brachte sie schließlich heraus.

Melanies Gesichtsausdruck wirkte irgendwie leicht gequält und verzweifelt, auch wenn es schien, also wolle sie das verstecken.

„Du darfst dort nicht rein." Nervös strich sie sich eine ihrer kurzen Strähnen aus dem Gesicht und starrte Dalis an.

Überrascht? Nein, so verwirrt war sie noch nie in ihrem Leben gewesen. Melanie sprach fast nie mit ihr oder wie gesagt: Mit irgendwem. Sie blieb oft verschlossen und hatte ständig etwas melancholisches in ihrem Blick, so wie jetzt. Aber nun...?

„D-das ist doch vollkommener Quatsch, natürlich darf ich in diese Abteilung", stammelte Dalis immer noch etwas erschrocken, aber bestimmt. Sie war bereits tausend mal an diesen Regalen vorbei gegangen, nur hatte sie nie im Sinn gehabt, auch hinein zu gehen.

Melanie biss sich auf die Lippe und holte tief Luft. Oh, hoffentlich hatte Dalis nicht schon wieder zu hart gewirkt. In diesem Internat war Verständnis und Geduld das Wichtigste, was man besitzen musste. Dafür sorgten die Leute von S.U.F.F.E.R., die schon seit langer Zeit für gesellschaftliche Werte in ganz Rellya, und besonders dem Gipfel-Internat sorgten.

Ihnen hatten sie zu verdanken, dass die Schulregeln genau auf solche Sachen abgestimmt waren und

Dalis nur noch wenig mit Mitschülern interagierte. Jedem sollte man das Gefühl geben, okay zu sein, seine wunden Punkte umgehen, um ein „gutes" Verhältnis zu ihm aufzubauen.

Dalis würde natürlich nie öffentlich sagen, dass sie an manchen dieser Regeln zweifelte oder nach und nach keine Lust mehr hatte, sie zu befolgen. Grundsätzlich störte es sie ja auch nicht, immer auf gewisse Weise nett und freundlich behandelt zu werden. Doch sie selbst fühlte sich nie dazu bereit.

Ihr fehle das Verständnis, würde Frau Opal sagen.

Was sie ihr aber nicht sagen würde, wäre, wie sie es erlangen könnte.

S.U.F.F.E.R. stand für „Sicherheit Und Fürsorge Für Einwohner Rellyas" und war genau genommen nichts weiter als ein veralteter Spitzname, der sich eingebürgert hatte, weil die Vereinigung sonst keinen speziellen Namen besaß.

„Dalis, ich -" Bevor Melanie sich irgendeinen weiteren Grund ausdenken könnte, weshalb sie nicht in diesen Bereich der Bibliothek gehen dürfte, wurde sie von Herrn Kettler in Beschlag genommen. Herr Kettler war sowas wie ein Vetrauens-Lehrer und hatte angeblich Psychologie studiert. Darum wuselte er auch andauernd um Melanie und diverse andere Schüler herum und setzte sich mit ihnen für eine halbe Stunde oder so hin, um aus ihnen herauszukriegen, was sie in ihrem Leben so verstört und zu dem gemacht hatte, was sie jetzt waren.

Leider immer erfolglos.

Überhaupt, niemand außer den Lehrern wusste so recht, wer Melanies Eltern waren oder was genau ihre immer noch anhaltende Amnesie veranlasst hatte. Obwohl es wahrscheinlich etwas schreckliches gewesen sein musste, denn sonst würden die Lehrer nicht so darüber schweigen.

„Hätten sie einen Moment, Fräulein Weber?", fragte er sie auch sofort.

Melanies Erregung war aus ihren Augen verschwunden, sie nickte nur noch stumm, drehte sich um und schlurfte kurz darauf hinter ihm her.

Das Klischee *on hold*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt