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„Wir danken euch herzlich für das zahlreiche Erscheinen. Mittlerweile sind es schon zwanzig Jahre, seit der Entstehung dieser Vereinigung. Der Schutz Rellyas war schon immer unsere höchste Priorität, von Anfang an."

Endlich wachte Dalis aus ihrer Starre und fixierte den bärtigen Mann, der nun begann, seinen Vortrag über den Schutz Rellyas - eine etwas beliebtere Form der Bezeichnung - herunterzurattern. Sie hatte fast vergessen, dass heute dessen Jubiläum war. Und dass sie zuvor eine halbe Stunde mit dem Bus zum Hauptgebäude gefahren waren.

Dalis saß neben Philipp und Jenny an einem der übermäßig langen Tische, und fummelte an der weißen Servietten neben ihrem Teller. Diese ganze Kooperation zwischen ihrer Schule und dem Schutz hatte gute und schlechte Seiten, aber trotzdem hätte sie an einem Sonntagmorgen lieber lange ausgeschlafen. Was aber ohnehin aufgrund des Frühstücks nie möglich war.

„...trotz all der uneinsichtigen Menschen, die leider immer noch existieren, können wir mit aller Sicherheit sagen, dass es keine Fälle gibt, die nicht aufzuklären sind. Jeder Bürger hat in seinem Herzen immer noch ein Stück Frieden, dass sich erweitern lässt. Und das wollen wir heute wirklich feiern!"

Mit was verbanden diese Leute denn „Frieden"? Dalis wünschte sie wüsste, wie man diesen Strategien nachging.

Der Mann ging runter vom Podest und eröffnete endlich das - zugegeben reichliche - Buffet.

Geordnet standen alle auf und reihten sich mitsamt der Teller in Schlangen am Rande des Saals ein.

Außer natürlich Dennis und dessen Freunde Sam und Luis. Die drei waren gefühlt die einzigen im gesamten Jahrgang, die sich mal zu etwas ausgefallenen trauten, und gerade dabei, eine Gruppe Mitglieder des Schutzes mit sinnlosen Fragen zu bombardieren.

Dalis wartete gar nicht erst darauf, dass ihre Klassenlehrer sie auf die spätere Fragestunde in der Schule erinnerten und stellte sich ebenfalls an. Wann genau hatten sie dieses Jubiläum in der Schule angesprochen? Dalis hatte es vergessen. Vermutlich hatte sie da nicht einmal mehr zugehört.

Ein paar Minuten später saß sie wieder an ihrem Platz und (zu ihrer Überraschung) Melanie gegenüber. Vermutlich hatte Herr Kettler sie hierher geschickt, damit sie nicht allzu viel Lärm oder sonst was abbekam.

Als sie aber dem Mädchen einen Moment in die Augen sah, konnte sie so etwas wie hervorkriechende Tränen erkennen.

Warte...

Melanie sah angespannt aus, starrte auf ihren Teller und griff mechanisch nach dem Besteck. Darauf bedacht, den Blick unten zu lassen, als wollte sie sich verstecken. Dalis war für einen Augenblick nochmals perplex, auch wenn man bei Melanie sowieso nie genau Bescheid wusste.

Was war schon wieder los? Die Begegnung in der Bibliothek war jetzt bereits drei Tage her, dazwischen hatte Melanie sich wohl nicht mehr getraut, irgendwas zu Dalis zu sagen. Oder hatte es irgendwas mit jemand anderem zutun?

Dalis musste gähnen und beschloss, sich nicht unnötige Gedanken zu machen. Aber leider - so wie immer - hatte sie das Gefühl, aufgrund all der Ansprüche trotzdem verantwortlich zu sein.

„Melanie -"

Doch Jenny hielt Dalis im letzten Moment zurück. Melanie ignorierte alles.

„Sie will nicht darüber reden", sagte Jenny fast genervt. Woher sie das wissen konnte, war Dalis jedoch ein Rätsel. „Worüber?"

Jenny lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und starrte wieder nach vorne. „Das ist doch jetzt egal", murmelte sie. Wenn dieses Verständnis und diese Fürsorge für andere darin bestand, so ignorant zu sein, sollte es Dalis doch recht sein. Aber es ging ihr jedes Mal aufs neue auf die Nerven.

Eine lange Präsentation folgte nach dem Essen, mit vielen Danksagungen an alle Sponsoren - die es überhaupt erst möglich gemacht hatten, gegen die Kriminellen vorzugehen - und so weiter. An ihrem Tisch fing das Geflüster an. Mehrere Jungs aus Dalis' Klasse hatten den Wunsch, bald bei S.U.F.F.E.R. zu arbeiten. Und demnach vieles im Sinn.

Ob es ihr bewusst war oder nicht - Dalis hatte schon oft das Gefühl, unendlich allein zu sein. Das machten die Leute um sie herum irgendwie nicht besser. Aber sobald Ähnliches wie Einsamkeit in ihr aufstieg, suchte sie etwas, um in anderen Gedanken zu versinken.

Das funktionierte immer.

„Und nun danken wir natürlich auch unserer treuen Mitarbeiterin Susanne Zahler; danke für alles. Du hast dir deinen Ruhestand verdient." Der Mann mit dem fast grauen Bart überreichte der rothaarigen Frau einen großen Blumenstrauß mit der Aufschrift „Faber" an der Seite. Sie nahm ihn mit einem leichten Lächeln entgegen und blieb stehen. Wann hatten sie mit den Dankesreden begonnen?

Er hatte offensichtlich gewartet, dass sie sich umwandte und wieder zurück zu ihrem Platz ging, doch sie rührte sich nicht. Er hielt ihr das Mikrofon hin, doch sie ignorierte es.

Durch die plötzliche Stille sahen viele Menschen im Saal verwirrt auf.

Susanne blickte den Mann fast kalt in die Augen und murmelte etwas, dass wie „wir reden dann später" klang. Doch so genau konnte Dalis es nicht verstehen, weil bald darauf lautes Klatschen einsetzte und Frau Zahler von der Bühne ging.

*

Dalis konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie lange das Jubiläum tatsächlich angedauert hatte, bloß dass sie in der Pause zurück im Internat den Drang hatte, irgendwas zu machen, das nichts mit dem Schutz Rellyas zutun hatte.

Im Zimmer kramte sie das Buch aus der Bibliothek aus der Tasche und fing endlich an zu lesen. Jedenfalls wollte sie es, als beim Aufschlagen direkt eine der Seiten herausfiel und auf dem Holzboden landete.

'Sehr hochwertig' stellte sie fest.

Anscheinend war sie herausgerissen worden, aber auf der Vorderseite prangte der Titel wieder: „Das Verhängnis des Bösen", und darunter befand sich eine Art Liste.

Bevor wir diese Geschichte beginnen lassen wollen, möchten wir (Menschen, die in diese Reise einbezogen sind) den Leuten gedenken, die wir in der psychischen, mentalen und moralischen Sicht verloren haben:

- Fred Eckers

- Nadira Warber

- Rick Steffens

- Cecil (?)

- Lory Tilgier(X)

- Victor Cattaneo

- Freya Passon

- Kilian Zahler

Wir hoffen, dass sie in ihrem nächsten Leben ihren gesunden Verstand wiedererlangen. Denn hinter dieser Geschichte steckt ein vergangenes Ereignis, das uns alle für immer bedrücken wird.

Dalis starrte verwirrt auf das Blatt, in ihrem Kopf nach einer Vermutung suchend, was genau das Alles bedeuten sollte. Weshalb stand hinter Lory Tilgier ein X? Waren diese Leute verrückt geworden? Warum waren es so viele? Und wieso hatten sie...ihren „gesunden Verstand verloren"?

Normalerweise wären diese Fragen für Dalis ein Grund gewesen, weiterzulesen. Aber irgendwas an diesem Schreibstil verstörte sie. Und noch etwas anderes.

Sie legte das Stück Papier zurück ins Buch.

Zahler? Hatte nicht ein Mitglied des Schutzes diesen Nachnamen gehabt? Es konnte auch Zufall sein, aber wenn die Geschichte auf einem echten Ereignis aufbaute...

Aber hauptsächlich erinnerte Dalis die Schreibweise an...S.U.F.F.E.R.. Auch wenn es sein konnte, dass sie sich das bloß einbildete. Seit wann schrieb der Schutz Bücher? Und wieso? Und warum erwähnten sie dort scheinbar existierende Leute so offensichtlich?

Aufgewühlt schlug sie irgendeine der Seiten des schwarzen Buches auf und las nur einen Satz:

Ab dem Zeitpunkt hatten sie einen Ort gefunden, eine Art Parallelwelt, die ihnen bei ihren zwielichtigen Plänen zu Hilfe stand.

Das Ganze musste bloß Zufall sein. Andernfalls...nein.

Aber seltsam war es schon, das stand für Dalis fest. Sie würde sich demnächst wohl eher ein anderes Buch zum Lesen suchen.


Das Klischee *on hold*Where stories live. Discover now