#10 Melanie

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Das Mädchen starrte in den Spiegel. Die Badezimmertür war abgeschlossen, die Halskette mit der silbernen Muschel daran pulsierte. Sie wusste, dass sie ihr etwas sagen wollte.

Zum ersten mal seit den drei Jahren ihres „Wiedererwachens" hatte sie keine Angst mehr vor den vielen übernatürlichen Erlebnissen, denen sie bisher ausgesetzt gewesen war. Es war alles irgendwie miteinander verbunden, es hatte einen Sinn, und den würde sie finden.

Jetzt doch ein wenig nervös stützte sie sich mit den Händen am Waschbecken ab und wagte es, sich selbst in die Augen zu sehen.

Okay. Ich habe unheimliche Angst davor, hilflos zu sein. Ich habe Angst davor, zu weinen. Ich habe Angst davor, jemanden vom Schutz Rellyas zu begegnen, ihm weinend in die Arme zu fallen und mich für den Frieden zu bedanken - weil ich es nicht könnte. Weil mich irgendwas Bestimmtes von diesen Leuten fernhält. Aber habe ich auch Angst vor meiner Vergangenheit, vor der Wahrheit?

Sie betrachtete sich ganz genau, die glasigen, hellblauen Augen, die kurzen braunen Haare, den emotionslos verzogenen Mund. Der dunkelgrüne Fummel, den sie sich in irgendeinem langweiligen nach Parfum riechenden Geschäft besorgt hatte.

Die traurig herunterhängenden Strähnen über ihrer Stirn.

Sie war leblos. Diese Hülle war leblos, und diese leblose Hülle hieß Melanie.

Wie von einer plötzlichen Macht übermannt riss sie sich die Kette vom Hals und schlug sie scheppernd gegen die geflieste Wand, ließ sie auf den Boden knallen und trat wie besessen darauf herum.

Es knackte bei jedem Tritt erneut, bis sie endlich den Fuß herunter nahm und sehen konnte, wie der Anhänger dort zerbrochen, traurig verteilt lag. Eine Sekunde lang starrte sie ihr Werk an, dann war da plötzlich ein blauer Blitz, und ihr wurde schwarz vor Augen.

Sie war nicht ohnmächtig, oder blind von jetzt auf gleich. Es war wie eine Welle aus blauem Licht, es breitete sich vor ihrem Sichtfeld. Sie atmete, fühlte, wie der Schein sich zu etwas anderem verwandelte.

Es war wie ein Bildschirm, ein Foto, nur das sie wusste, dass es Erinnerungen sein würden.

„Ich will mich nie wieder an irgendwas hiervon erinnern müssen."

Der Satz hallte ihr nach.

Sie sah ihr dreizehnjähriges Ich vor sich, sie sah die Friedensschützer.

Sie sah Rick vom strahlenden Fluch auf die Knie fallen. Sie sah sich Nadira mit einem Dolch in den Boden festkrallen um sich vor dem tobenden verzauberten Wind zu retten, ihre rotgefärbten Haare durch die Luft wehen.

Sie sah Aeron Patéres' zufriedenes Gesicht, und die untätigen Mitarbeiter hinter ihm. Sie sah den alten Herrn Eckers vom Schwung des Zaubers nach hinten fallen und Victor völlig erschrocken zusammenzucken und stolpern. Sie sah wie sich Kilian Zahler, verstört durch die Ereignisse, mit ruckartigen Bewegungen nach einer Fluchtmöglichkeit umsah.

Sie glaubte für einen Moment sogar die Nachtluft zu spüren, sie sah genau die Tannen um sie herum, wie ihre Äste im Wind schaukelten. Das klamme Gras an ihren Schuhen.

Der Fluch kroch geradezu durch den Boden, erwischte Kilian und Victor beinah gleichzeitig am Kragen und das Schlachtfeld verwandelte sich in schwarzen Rauch. Sie hörte einen der beiden schreien.

„Es ist das, was euch gebührt." Sie wusste, dass die Leute von S.U.F.F.E.R. das dachten. Und sie wusste, wen dies in den kompletten Wahnsinn treiben würde.

„DAMIT GEBE ICH MICH ABER NICHT ZUFRIEDEN!" Es war Freya. Sie hatte das scharfe Messer zum Schlag angesetzt, sie konnte Aeron so schnell es ging zu Boden zwingen.

Rick und die Anderen waren von der aufkommenden Dunkelheit verschlungen, was man sah, waren die beiden Erzfeinde in Kampfstellung. Man konnte den Hass in Aerons Augen sehen, auch wenn er ihn sehr gut kaschierte.

„Du wirst es."

Damit schlangen sich die dunklen Schlieren um ihren erhobenen rechten Arm und zerrten Freya zurück.

„Sehr bald sogar", fügte eine Frau von hinten hinzu.

Sie sah wie der jungen Frau mit den strahlend weißen Haaren pechschwarze Flüssigkeit die Lippen herunterlief. Wie in einem Horrorfilm begann sie zu keuchen, als ob etwas in ihr sie am Atmen hinderte.

Entsetzt sah sie ihre Freundin widerstrebend und hustend in den schwarzen Nebel taumeln. Es krachte ohrenbetäubend und hohl.


Ein dunkler Blitz und das Letzte, was sie sehen konnte, waren die Grabsteine. Sie waren getötet worden.

Lory konnte und wollte das, was sie gerade gesehen hatte, einfach nicht glauben.

Aber unglücklicherweise musste sie es.

Das Klischee *on hold*Tempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang