Kapitel 72

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Kaelan war der Erste, der auf den breiten Rücken der mächtigen Kreatur kletterte und seine Hand in meine Richtung ausstreckte. Ich zögerte nicht für eine Sekunde, ergriff sie und ließ mich von ihm hinaufziehen. Unwillkürlich staunte ich über seine enorme Kraft, dann war ich allerdings schon damit beschäftigt, eine Position zu finden, die gewährleisten würde, dass ich nicht beim ersten Flügelschlag Ginessas beeindruckender Schwingen in die Tiefe stürzen würde. Es hätte mich wohl erschrecken müssen, dass ich mich vor diesem Flug weit weniger fürchtete, als vor meinem ersten Ritt auf einem Pferd, doch ich verschwendete kaum einen Gedanken mehr daran, als ich einen der massiven Zacken, die aus dem Rücken des Drachens ragten, umfasste und harten Knochen unter meinen Fingern spürte.

Das ist Wahnsinn, dachte ich. Köstlicher, erstrebenswerter Wahnsinn.

Jeremia schien da nicht ganz meiner Meinung zu sein. Er hatte inbrünstig versucht, mich davon zu überzeugen, ein solcher Flug sei viel zu gefährlich, vor allem für jemanden, der noch keinerlei Erfahrungen mit Drachen gemacht hatte, doch da hatte sich der Eiskönig eingemischt. Er hatte verkündet, er würde mit mir fliegen und dafür sorgen, dass mir indessen nichts zustieß. Einen Sattel gäbe es nicht. Der Freiheit der Tiere wegen. Und ich verstand, was er meinte und willigte ein.

»Es ist der schnellste Weg«, hatte ich zu Jeremia gesagt und ihm beruhigend zugelächelt. Er wusste, was ich damit sagen wollte. Wir würden nach Ashbrook zurückkehren - auf den Rücken dieser Bestien. Und ihm behagte diese Vorstellung nicht im Geringsten.

Dennoch gab er seine Überzeugungsversuche schließlich auf und ließ mich gehen. Und das rechnete ich ihm hoch an. Dass er mich nicht zu zwingen versuchte, auf dieses Erlebnis zu verzichten und widerwillig zurücktrat, während sein Blick sich in meinen Rücken bohrte.

Kaelan holte mich wieder ins Hier und Jetzt zurück, indem er mir die Hände auf die Hüften legte und so nah an mich heranrutschte, dass ich überrascht nach Luft schnappte.

»Angst vor ein bisschen Körperkontakt, Sonnenanbeterin?«, fragte er neckend.

Ich schüttelte bloß meinen Kopf, weil ich wusste, dass das, was er tat, notwendig war, um für meine Sicherheit zu sorgen. Es fiel mir allerdings schwer, mir nicht auszumalen, was dieser Anblick mit Jeremia machen musste. Also blendete ich alles aus, ignorierte die warmen Hände auf meinen Hüften und den heißen Atem in meinem Nacken und konzentrierte mich einzig und allein auf das Tier, das sich unruhig unter uns bewegte. Doch ich fürchtete mich noch immer nicht.

»Das erste Mal wird dich um den Verstand bringen«, sagte Kaelan plötzlich mit einem Grinsen in der Stimme. »Und all die Male danach auch.«

Ich verdrehte meine Augen über die Zweideutigkeit seiner Worte, obwohl ich vor freudiger Erwartung kaum still sitzenbleiben konnte. Über Kaelans Albernheit würde ich mir später noch genug Gedanken machen können, jetzt allerdings...jetzt würde ich auf dem Rücken eines Fabelwesens fliegen.

Fliegen.

Das Wort hallte lange in meinem Kopf wider. Menschen konnten es nicht, waren nicht in der Lage dazu und trotzdem würde ich es tun. Und das war vermutlich das Großartigste an der Situation. Abgesehen von dem wunderschönen Tier, zu dem ich eine Art Verbindung spürte, die zu benennen ich nicht fähig war. Ich beugte mich ein wenig vor, während meine Hände den Zacken so fest umklammerten, dass die Knöchel weiß hervortraten und merkte, dass Kaelan meiner Bewegung folgte.

Ich hatte mir die Haare zu einem Zopf geflochten, weil der Eiskönig mir angedroht hatte, ich würde sie niemals wieder entwirren können, würde ich dies nicht tun.

»Passt auf sie auf!«, brüllte Jeremia gegen den Wind an, der urplötzlich aufgezogen war und sah den Eiskönig durchdringend an.

Ich für meinen Teil schenkte ihm ein breites Lächeln, das er erwiderte. Wenn auch etwas weniger strahlend und vielleicht sogar ein bisschen zittrig. Er formte mit seinen Lippen den Satz, den zu hören ich niemals überdrüssig werden würde und dann erhob sich der Drache vom Boden.

BORN TO BURN (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt