» Kapitel 6 «

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»Olivia?« Eine zarte Mädchenstimme durchschnitt meinen traumlosen Schlaf. Blinzelnd öffnete ich meine Augen und erhaschte einen verschwommenen Blick auf eine kleine, gertenschlanke Gestalt, deren blasses Gesicht von einzelnen blonden Strähnen umrahmt wurde, die sich offenkundig aus ihrem unordentlichen Zopf gelöst hatten.

Zuerst glaubte ich, Bree vor mir zu haben. Bree in jüngeren Jahren. Unbeschwert und gelöst.

Aber dieses junge Mädchen war nicht meine beste Freundin und ich nicht Zuhause.

Zögerlich setzte ich mich auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. »Wer bist du?«, fragte ich mit heiserer Stimme und räusperte mich. »Wie bist du hereingekommen?«

Das Mädchen bewegte sich nicht von der Stelle, als es antwortete: »Ich soll Euch zum Waschraum geleiten. Euer Zimmer wurde mir von Soldat George aufgeschlossen. Es tut mir leid, sollte ich Euch erschreckt haben, aber er versicherte mir, Ihr wärt bereits wach.«

Das hätte ich auch sein sollen, dachte ich verärgert. Aber ich hatte geschlafen wie ein Stein.

»Wie spät ist es gerade?«

»Es müsste ungefähr sieben Uhr zehn sein«, sagte das Mädchen und lächelte zittrig. »Es ist mir wirklich schrecklich peinlich, dass ich Euch...«

Ich winkte ab, schlug die Decke zurück und setzte mich auf. »Dich trifft keine Schuld.« Dann stieg ich aus dem Bett und tapste auf nackten Sohlen zu dem wuchtigen Kleiderschrank. Ich war völlig verwirrt und konnte nicht nachvollziehen, wie es sein konnte, dass man mich an einem Tag wie eine Verbrecherin behandelte, und am nächsten eine Magd schickte, die sich um mich kümmern sollte. Und wer war dieses Mädchen überhaupt? Neugierig drehte ich mich zu ihr um und ertappte sie dabei, wie sie meine dunklen Haare genauestens musterte. Es wunderte mich nicht, dass sie nach roten Strähnen suchte, die mich als Hexe ausweisen sollten. Sie errötete leicht und starrte zu Boden. »Wie heißt du?«, erkundigte ich mich.

Sie schaute mich noch immer nicht an. »Nennt mich, wie es Euch beliebt.«

Natürlich. Mägde hatten unter der Herrschaft des Königs keine legitimen Namen. Sie existierten nur, um ihm zu dienen, genau wie zuvor ihre Mütter und Großmütter und in absehbarer Zeit ihre eigenen Kinder. Es hatte mich schon immer angewidert, dass man am Königshof mit Menschen umging, wie ein Handwerker mit Werkzeugen.

»Wie wäre es damit, dass du dir einen Namen aussuchst und ich ihn verwende?«

Das schien sie zu erfreuen, denn die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht, das dem von Bree auf eine so schockierende Weise ähnelte. Sie dachte keine zwei Sekunden über meinen Vorschlag nach. »Dann möchte ich Danielle heißen.«

»So soll es sein, Danielle«, murmelte ich, worauf ich mich wieder dem Kleiderschrank zuwandte. Ich wusste nicht, was ich anziehen sollte. Noch immer steckte ich in dreckigen Klamotten, von denen ein unangenehmer Geruch ausging, aber ich war gestern dermaßen müde gewesen, dass ich für keine Sekunde daran gedacht hatte, mich zumindest auszuziehen. »Ich weiß nicht, was...«, erklärte ich hilflos und zuckte mit den Schultern.

»Soldat Georg hat mir gesagt, dass er Euch zum Training abholen wird. Das bedeutet, dass Ihr eine Uniform tragen müsst. Nehmt irgendeine heraus und gebt sie mir, ich werde sie für Euch aufbewahren. Denn zuerst müsst Ihr Euch waschen. Kommt mit mir.«

Offenbar wollte sie keine Zeit mehr verstreichen lassen, denn sie nahm mir die Uniform aus der Hand, die ich gerade eben aus dem Schrank herausgeholt hatte und ging damit zur Tür.

Ich öffnete erstaunt den Mund. »Aber...aber ich kann doch nicht so...« Beschämt blickte ich an mir herunter. Barfuß und verdreckt wie eine Obdachlose, so sah ich aus. »Ich meine, was wenn wir auf dem Weg jemandem begegnen?«

BORN TO BURN (Band 1)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt