Kapitel 35 «

3.5K 356 70
                                    

»Die Seherin«, wiederholte ich die Worte der Frau und erinnerte mich vage daran, dass Connor diesen Titel mir gegenüber in den vergangenen Wochen erwähnt hatte. »Ihr Seid die Wahrsagerin.«

Sie verzog ihren Mund. »Diese Bezeichnung mag ich nicht besonders, wenn ich ehrlich bin.«

»Ich erflehe Eure Verzeihung«, sagte ich sofort und schlug die Augen nieder. »Es war nicht meine Absicht, Euch zu verärgern.«

»Nein, das weiß ich«, versicherte sie, nun wieder liebevoll lächelnd. »Wir werden in Zukunft noch viel miteinander zu tun haben, du und ich.«

Sie richtete den Blick auf etwas hinter mir, etwas, das ich nicht wahrnehmen konnte, als würde sie durch mich hindurchblicken. Es machte mich frösteln. Dann fokussierte sie allerdings wieder mich.

»Werdet Ihr mich in meinen Träumen besuchen?«, wollte ich neugierig wissen und leckte mir über meine Lippen, die mir in Anbetracht dieser ätherischen Schönheit plötzlich viel zu rissig vorkamen.

Sie schüttelte leicht den Kopf. »Ich denke nicht. Träume sind ein Mittel, auf das ich nur sehr selten zurückgreife. Ich werde dich in der Realität besuchen. Wie all deine Vorgängerinnen und
Nachfolgerinnen. Traditionsgemäß.«

Ihre Worte schürten meine Neugier ins Unermessliche. »Ihr sprecht von den Sonnenanbeterinnen.«

»Ganz recht«, sagte sie zufrieden. »Dort, wo sie dich hinbringen - in Wiesenthal - wirst du deine Kraftreserven wieder mit Sonnenlicht auffüllen könne. Zur Genüge, wage ich zu behaupten. Jeremias Farm ist ein sicherer, sonniger Ort, der dich aufblühen lassen wird.« Nun stand sie direkt vor mir und sah mich prüfend an. »Ashbrook hat deine Haut blass gemacht, dein Haar matt und deine Nägel rissig. Wiesenthal wird dich heilen, es ist ein gesegneter Ort.«

Ich wusste natürlich, dass mein Aufenthalt in Ashbrook, wo ich die meiste Zeit in meinem Zimmer oder im Trainingssaal hatte verbringen müssen, meiner Sonnenanbeterinnen-Natur nicht unbedingt gutgetan hatte - dass die Folgen allerdings so offensichtlich waren, das hatte ich nicht gewusst.

»Was erwartet mich dort?«

»Das«, meinte sie lachend, »findest du noch früh genug selbst heraus. Hab nur Vertrauen.«

Vertrauen, dachte ich. Vertrauen kann ich so schnell niemandem mehr.

»Ich werde dich besuchen, wann immer ich mich in Wiesenthal befinde. Und wenn du dann Fragen hast, werde ich versuchen, sie zu deiner Zufriedenheit zu beantworten. Vergiss nicht, dass du unsere letzte und einzige Hoffnung bist, Olivia. Wir haben viele Helfer, ohne die niemals möglich gewesen wäre, was gerade geschieht, aber ohne dich wäre jeder Widerstand, jeder Versuch, den König aufzuhalten, völlig zwecklos. Das darfst du niemals aus den Augen verlieren. Mit der Zeit wirst du mit Sicherheit verstehen, wie wichtig du für Ashbrook bist. Darauf hast du mein Wort. Und Die Seherin geht nicht leichtfertig mit Versprechungen und Schwuren um.«

»Ich...«, begann ich mit vor Unsicherheit zitternder Stimme. »Ich werde es versuchen.« Ich hoffte, dass ich mich tapferer anhörte, als ich mich fühlte.

Die Seherin blickte mich voller Mitgefühl in den grauen Augen an. »Du hast noch ein bisschen Zeit, dich mit der für dich vorgesehenen Rolle anzufreunden.«

»Die für mich vorgesehene Rolle?«, keuchte ich verständnislos.

»Ja, das Schicksal hat dich auserkoren und das Schicksal irrt nie. Wenn die Zeit kommt, musst du bereit sein, eine Revolution anzuführen. Mit dir an der Spitze wird Ashbrook zu einer Weltmacht aufsteigen, zu einem besseren Ort.«

BORN TO BURN (Band 1)Onde as histórias ganham vida. Descobre agora