29- Tränen

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Viel zu schnell kommen wir an. Die Kapelle zeichnet sich vor uns ab. Heute scheint der Himmel besonders grau zu sein. Kein Licht kommt heute an. Laut atme ich ein und aus, ehe ich aus dem Wagen steige. Der Wind wirbelt um uns herum, spielt mit unseren Haaren. Mit zitternden Knien gehe ich los. Damon und Grace folgen mir.

Vor der Kapelle stehen schon einige Verwandte und Angehörige von Colin. Einige von ihnen erkenne ich wieder. Auch seine Mutter steht schon da und kommt auf mich zu. Unter Tränen schließt sie mich in ihre Arme.

"Ich freue mich so, dass du da bist. Ich bin so aufgewühlt heute".

Ihre Stimme ist nur ein Flüstern. Ich beiße mir auf die Lippe, um nicht selber in Tränen auszubrechen. Nicht jetzt schon. Einige Sekunden vergehen und wir lösen uns wieder voneinander. Ich drehe mich kurz weg und atme tief durch. Damon nimmt sanft meine Hand und Grace streicht mir kurz über den Rücken.

Zu dritt betreten wir die Kapelle. Kurz bleibe ich stehen. Ganz vorne steht der Sarg. Es ist genauso schrecklich wie ich es mir vorgestellt habe, vielleicht sogar noch schlimmer. Die Vorstellung das Colin in dieser Holzkiste liegt, kommt mir aufeinmal völlig absurd vor. Es fühlt sich so unreal an. Am liebsten möchte ich schreiend wegrennen, aber ich bleibe stumm stehen. Wir nehmen in einer der hinteren Reihen Platz. Es kommen immer mehr Leute.

Zum Schluss kommt der Pastor und es geht los. Musik ertönt. Das erste Lied wird gespielt. Willkommen in der Hölle. Ich kann nicht zuhören. Die Lippen des Pastors bewegen sich, aber ich verstehe kein Wort. Ich sitze wie benebelt da. Plötzlich stehen alle auf, also tue ich es auch.

Die Melodie von You raise me up ertönt und der Moment ist gekommen. Die Türen werden geöffnet und der Sarg wird nach draußen geschoben. Tränen schießen mir in die Augen. Das ist der schlimmste Teil von Beerdigungen. Die ganze Trauergemeinschaft folgt dem Sarg nach draußen bis zum Grab. Dort wird er nach einer kleinen Ansprache vom Pastor unter die Erde gelassen.

Als wir an der Reihe sind lege ich noch eine Rose auf das Grab. Ich weine und weine, habe mich nicht mehr unter Kontrolle. Es tut weh. Diese Endlichkeit zu ertragen tut weh. Dieses für immer. Nichts im Leben ist für immer. Außer der Tod. Nie wieder werde ich die Möglichkeit haben mich mit Colin auszusprechen. Und das zu akzeptieren ist sehr schmerzhaft.

Doch auch die schlimmsten und schwersten Momente gehen irgendwann vorbei und so sitzen wir einige Zeit später wieder bei Damon im Auto. Schweigend sehe ich aus dem Fenster. Niemand sagt etwas. In dieser Stille fahren wir einfach wieder nach Hause. Gemeinsam gehen wir nach oben in unsere Wohnung.

"Ich möchte alleine sein", murmle ich und gehe in mein Zimmer. Langsam sinke ich an der geschlossenen Tür zu Boden.  Wieder laufen mir die Tränen über mein Gesicht. Laut schluchze ich auf. Wieso muss es so sehr weh tun? Wieso habe ich Gefühle? Es tut einfach nur weh.

Seufzend stehe ich auf und ziehe erstmal Jacke und Schuhe aus.  Ich setze mich auf den Hocker der vor meinem Klavier steht und beginne zu spielen.  Die nächsten Stunden versinke ich in der Musik. Meine Finger fliegen nur so über die Tasten.

Plötzlich fällt mir das Vorspielen in der Uni wieder ein. Abrupt höre ich auf zu spielen. "Mist", murmle ich. Wie konnte ich das bloß vergessen? Schnell hole ich mein Handy und tippe die Nummer von Ruby ein. Nervös drücke ich auf den grünen Hörer.

"Ruby White".

"Hi hier ist Emma Monroe. Ich wollte letzte Woche eigentlich zum Vorspielen kommen, aber...es kam etwas dazwischen", stottere ich verlegen.

"Hey Emma. Ist gar kein Problem. Wir mussten das Vorspielen sowieso verschieben. Kannst du heute?". Ruby klingt sehr freundlich. Ich mag sie auf anhieb.

"Ja kann ich. Wann denn?".

"In einer Stunde in den Musikräumen der Uni. Ich freue mich auf dich". Ich höre ihr Lächeln praktisch durchs Telefon.

"Ja das schaffe ich".

"Okay dann bis gleich".

"Bis gleich".

Ich lege auf und fahre mir aufgewühlt durch die Haare. Eine Stunde? Wie soll ich das bloß schaffen? Schnell gehe ich zu meinem Kleiderschrank und reiße die Türen auf. Ich greife nach einem roten, lockeren Top und einer schwarzen Jeans. Dazu ziehe ich meine schwarzen Ankleboots an. Ich stürme aus meinem Zimmer ins Bad. Hastig öffne ich meine Haare, so dass diese locker über meine Schultern fallen. Anschließend frische ich mein Make-up etwas auf.

"Willst du noch irgendwo hin?", fragt Damon im Türrahmen angelehnt. Auch Grace lugt um die Ecke.

"Ja ich gehe zu dem Vorspielen für die Band".

"Wir kommen mit". Grace klatscht begeistert in die Hände und grinst.

"Ihr müsst nicht mitkommen".

"Aber wir sind doch deine größten Fans". Damon schafft es dies ohne einen Hauch von Ironie zu sagen. Ich schenke ihm ein kleines Lächeln.

"Dann müssen wir jetzt aber los".

Damon und Grace ziehen sich ebenfalls an und wir machen uns auf den Weg. Damon fährt uns alle mit seinem Auto zur Universität. Meine Hände sind vor Aufregung eiskalt. Nervös sehe ich aus dem Fenster.

"Welchen Titel wirst du eigentlich spielen?", fragt Damon. Sein Blick liegt konzentriert auf der Straße.

"Scheiße", fluche ich aufgebracht.

"Was ist?", schaltet sich nun auch Grace ein.

"Ich hab mir nicht überlegt welchen Titel ich spielen will". Aufgebracht vergrabe ich mein Gesicht in den Händen und seufze. Damon legt seine Hand sanft auf mein Knie und streicht mir aufmunternd darüber.

"Du bist Emma Monroe. Dir fällt schon was ein", ertönt Grace euphorische Stimme aus dem hinteren des Wagens.

Wenn ich nur annährend so überzeugt von mir wäre wie Grace, dann wäre das kein Problem. Bin ich aber leider nicht. In meinem Kopf gehe ich sämtliche Titel durch die mir einfallen. Was soll ich spielen? Es gibt so viele tolle Titel.

"Du spielst sowieso jedes Stück mehr als perfekt", sagt Damon überzeugt und sieht kurz zu mir rüber.

"Findest du wirklich?", murmle ich und wende meinen Blick zu ihm.

"Ja Emma wirklich. Du spielst mit so viel Herz und spielst auch technisch einwandfrei".

"Du solltest nur mehr an dich glauben", fügt Grace mit Nachdruck hinzu.

Wenige Minuten später kommen wir an den Parkplätzen an. Nervös streiche ich mir mein Top glatt und steige aus. Mit zitternden Knien gehen ich zu den Musikräumen. Grace und Damon geben mir zumindest etwas Sicherheit. Eine gefühlte Ewigkeit später kommen wir endlich an und ich klopfe zaghaft an der Tür.

"Herein", ertönt es gedämpft von innen.

Love AgainWhere stories live. Discover now