8- Leidenschaft

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Eine Stunde? Direkt wandert mein Blick zu Uhr. Bis dahin würde ich es schaffen fertig zu sein, da ich prinzipiell fertig bin. Warum zur Hölle ist es mir aufeinmal wichtig, wie ich aussehe? So kenne ich mich nicht. Verärgert über mich selbst, stehe ich auf und gehe zu meinem Kleiderschrank. In dem Spiegel der Schranktür mustere ich mich und bin wie immer unzufrieden. Werde ich jemals zufrieden mit mir sein? Alle sagen mir immer, wenn du älter wirst, kommt das schon. Jetzt bin ich einundzwanzig und ich warte immernoch. Leise seufze ich. Ich öffne den Kleiderschrank und durchwühle all die geordneten Stapel. Irgendwo muss doch etwas sein, das mir gefällt. Wieder entfährt mir ein Seufzer.

Letztendlich entscheide ich mich für eine dunkle, enge Jeans, ein lockeres rotes Top und einen schwarzen Cardigan. Immerhin mal etwas farbiges. Etwas zufriedener betrachte ich mich erneut im Spiegel. Ich beschließe meine Haare einfach so zu lassen wie sie sind, da sie mir heute in leichten Wellen über die Schultern fallen, was mir gut gefällt. Ein weiterer Blick auf die Uhr verrät mir, dass kaum Zeit vergangen war, seit ich das letzte mal darauf geschaut habe. Ist es nicht fast schon witzig, dass die Zeit in unbedeutenden, alltäglichen Momenten quälend langsam vergeht, sich zieht wie ein Kaugummi der einem unterm Schuh kleben bleibt. Die schönen Momente hingegen, die, die man gerne verlängen möchte, vergehen in so rasanter Geschwindigkeit, als wären sie nie dagewesen. Ja, das Leben hatte schon einige Paradoxien zu bieten. Hastig räume ich meinen Kleiderschrank und den Rest meines Zimmers wieder auf, da ich Chaos um mich rum einfach nicht aushalten kann. In mir drin herrscht schon ein groß genuges Chaos, weshalb ich immer Ordnung um mich herum brauche, um mich wohlzufühlen. Grace hatte schon häufig von dieser Eigenart von mir profitiert. Wie oft hatte ich ihr Chaos in unserer Wohnung beseitigt, da es mich zu sehr gestört hat. Innerlich musste ich darüber schmunzeln.

Nachdem ich mein Zimmer fertig aufgeräumt habe, setze ich mich noch etwas an mein Klavier, was mit Abstand, mein wichtigster Besitz ist. Ich lebe für die Musik, für mein Klavier. Bisher konnte ich nirgendwo finden, was die Musik mir gibt. Sie hatte mich nie enttäuscht, nie im Stich gelassen, nie ausgenutzt. Die Bitterkeit meiner Worte war mir durchaus bewusst, doch war sie eine umungängliche Wahrheit, die ich nie im Leben verdrängen könnte. Mit meinen Fingern steiche ich behutsam, fast schon liebevoll, über die Tasten. Leise melodische Töne erfüllen den Raum und ich beginne zu spielen. River flows in you. Eins meiner absoluten Lieblingsstücke. So oft habe ich dieses Stück schon gespielt. Immer hatte es mich getragen, mich fühlen lassen. Wenn ich Klavier spiele bin ich ein anderer Mensch. Ich bin freier, ich kann sein wer ich bin und muss mich nicht verstellen. Sanft schließe ich die Augen, meine Finger finden die Tasten, ohne dass ich sie sehen muss. Der so vertraute Klang umhüllt mich, umschmiegt mich liebevoll, trägt mich in eine andere Welt. Eine magische, gefühlsvolle Welt. Plötzlich ist alles andere völlig unwichtig. Ich bekomme sowieso nichts mit. Meine Mutter hatte früher immer zu mir gesagt, es könnte das ganze Haus neben mir einstürzen, ich würde es nicht merken und einfach weiter spielen. Ein Lächeln bildet sich auf meinen Lippen, wenn auch nur ein kleines. Ich spiele und spiele, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Jeder Mensch hatte eine Leidenschaft, etwas wofür er brennt, was er von ganzem Herzem und aus ganzer Seele liebt. Wofür er sich komplett hingibt, bei mir war es nunmal die Musik. Mit meinem Studium habe ich vor, meine Leidenschaft zu meinem Beruf zu machen und Menschen damit zu berühren und zu inspirieren. Um Ruhm und Erfolg geht es mir nicht, nur darum meine Leidenschaft mit anderen Menschen zu teilen.

Ich spiele die letzten Noten, schlage die letzten Tasten an und verharre einen Augenblick in dieser Position. Als ich mich bereit dazu fühle, öffne ich die Augen und lächle leicht. In nur zwei Minuten würde Damon schon gekommen. Mal wieder wurde mir bewusst, wie viel Zeit ich am Klavier verbringen konnte, ohne es zu bemerken. Wenn ich Klavier spiele, steht für mich die Zeit still, als würde sich die Welt plötzlich langsamer drehen, nur für mich.

Ich schüttele meine Gedanken beiseite und konzentriere mich wieder aufs hier und jetzt. Schnell ziehe ich mir meine Schuhe an, streife mir meiner Meinung nach, einen etwas schickeren Mantel über und lege mir meinen Schal um den Hals. Keine Sekunde später klingelt es an der Tür, welche ich daraufhin. Lässig steht Damon am Türrahmen angelehnt und grinst mich an. Ohne es steuern zu können grinse ich ebenfalls. "Hey Emma", seine rauhe Stimme unterbricht die Stille zwischen uns. "Hey", mehr bekomme ich nicht raus. Ich streiche mir eine Strähne hinters Ohr und sehe zu Damon hoch. "Wollen wir los?", fragend sieht er mich an. "Gerne", mit einem Nicken bestätige ich seine Aussage. Ich schließe die Tür hinter mir ab und wir gehen gemeinsam zu seinem Auto. Bei diesem angekommen, öffnet Damon mir die Tür, damit ich einsteigen kann. "Ganz der Gentleman heute?", mit hochgezogener Augenbraue mustere ich ihn und kann mir ein schmunzeln nicht verkneifen. "Für dich immer", kurz zwinkert er mir zu. "Also darf ich bitten?", mit einem Lächeln auf den Lippen hält er mir seine Hand hin. Ebenfalls lächelnd ergreife ich diese und steige ein. Für einen kurzen Moment hält er meine Hand, ehe er sie loslässt und die Tür zumacht.

Er steigt auf der Fahrerseite ein und wir fahren los. Der Weg zu seiner Wohnung ist nicht weit und schon nach kurzer Zeit kommen wir bei ihm an. Schnell steigt er aus, nur um mir die Tür aufzuhalten. Verlegen lächle ich ihn an. "Du musst das nicht machen". "Ich tue das aber gerne, Emma", überzeugt sieht er mich an. Ohne ein weiteres Wort steige ich aus und wir gehen gemeinsam nach drinnen. Draußen weht wieder ein einsiger Wind, der einen augenblicklich frösteln lässt. Umso mehr freue ich mich, dass wir kurze Zeit später in der warmen Wohnung stehen. Interessiert lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen.

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