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        „Na schön. Nun da ich weiß, dass ich dank des Blei-Käfers, der nebenbei erwähnt überhaupt nicht wie ein Käfer aussieht, im kommenden Jahr eine Affäre haben werde, ist es Zeit für meine kitschige Silvestertradition." Olivers Misstrauen gegenüber der Genauigkeit und Aussagefähigkeit des Bleigießens bringt mich etwas zum Lachen. Es sind mittlerweile nur noch 10 Minuten bis zum Countdown und wir haben den Fernseher wieder angestellt, um uns den Ball-Drop am Time Square anzusehen.

„Tja, meine Vase, die eine neue Liebe voraussagt, ist auch nicht besonders schön geformt, aber du brauchst beim Bleigießen einfach ein wenig Fantasie." Meine ich grinsend.

„Fantasie? Gerade du meinst, ich bräuchte Fantasie?" Oliver sieht mich mit großen Augen an und irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck bringt mich zum Lachen. „Wer von uns beiden ist denn das lyrische Genie und wer der 0 und 1 Fanatiker?"

„Ach du liebe Zeit. Nur weil meine linke Gehirnhälfte etwas besser funktioniert als meine rechte, heißt das nicht, dass ich nicht ein Quäntchen Fantasie habe." Verteidige ich mich, bevor ich wissen will. „Was ist also deine kitschige Silvestertradition?"

„Also schön. Neben dem Ball-Drop eine absolut unverzichtbare Tradition ist es, dass das Lied Auld Lang Syne das erste sein muss, das du im neuen Jahr hörst."

„Oh, was habt ihr Amerikaner nur mit diesem Lied? Ich finde es passt nicht mal zu Silvester."

„Ava, ich hab deine Tradition mitgemacht, jetzt musst du auch meine mitmachen." Oliver sieht mich tadelnd an und ich muss mich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. „Außerdem ist das Lied toll. Es spricht von guten alten Zeiten und von Liebe und macht dir Lust auf das neue Jahr, das vor dir liegt." Olivers Augen beginnen richtig zu strahlen, als er von dem Lied spricht und ich frage mich, welche glückliche Erinnerung er damit verbindet, die ihn sich so für das Lied begeistern lässt.

„Also gut. Ich mach mit. Aber ich hoffe, der Funke springt über und ich werde endlich verstehen können, warum jeder so besessen von dem Lied ist."

„Ich geb mein Bestes." Ich weiß zwar nicht was Oliver damit meint, aber mir bleibt auch keine Zeit ihn danach zu fragen, da er vom Sofa aufspringt und in den Flur eilt. Als er zurückkommt, hat er seinen Gitarrenkoffer in der Hand und grinst bis über beide Ohren.

„Warte. Ich dachte du willst dir das Lied im Fernsehen anhören?" Meine ich etwas verwirrt und deute auf seinen Gitarrenkoffer.

„Naja, aber wenn der Funke überspringen soll, ist eine Live-Version des Liedes viel hilfreicher." Mit diesen Worten packt er seine Gitarre aus und lässt sich damit wieder neben mich aufs Sofa fallen. Gerade rechtzeitig, als der Moderator im Fernsehen, die bevorstehende Ankunft des neuen Jahres ankündigt und der Countdown beginnt.

Oliver und ich sehen beide wie gebannt auf den Bildschirm und ich bemerke, dass er - ganz leise - den Countdown mitzählt. Als er bei 0 angekommen ist, explodieren nicht nur im Fernsehen, sondern auch draußen zahlreiche Feuerwerkskörper und das Wohnzimmer wird mit jedem Knall in eine andere Farbe des Regenbogens getaucht.

Kaum hat jedoch das neue Jahr begonnen, stellt Oliver den Fernseher auch schon auf stumm und schlägt die ersten Takte von Auld Lang Syne an. Die Akustik meines Wohnzimmers ist nicht unbedingt die beste, trotzdem hat der sanfte Klang der Gitarrensaiten etwas Magisches an sich. Als Oliver dann beginnt zu singen, bin ich sprachlos. „Should auld acquaintance be forgot. And never brought to mind? Should auld acquaintance be forgot, and days of auld lang syne?"

Olivers Stimme und der Klang haben eine ganz besondere Harmonie, die mich sofort in ihren Bann zieht. Die Lichter des Feuerwerks draußen lassen das Wohnzimmer in den unterschiedlichsten Farben erleuchten. Eine wunderschöne Farbe leuchtet auf, nur um gleich darauf wieder zu verschwinden und von einer noch viel schöneren Farbe ersetzt zu werden. Und es springt nicht bloß ein Funke zu mir über. In mir drinnen beginnt ein ganzes Feuer zu lodern.

Aber dieses Feuer hat vielleicht gar nicht so viel mit dem Lied zu tun, sondern mit der Person, die es singt. „We'll take a cup o'kindness yet. For auld langs syne." Endet Oliver das Lied und die letzten Töne der Gitarrensaiten verklingen.

Ich sehe ihn immer noch wie verzaubert an und etwas an meinem Blick bringt ihn zum Lächeln. „Frohes neues Jahr, Ava."  Murmelt er und legt seine Gitarre vorsichtig auf den Fußboden, bevor er seinen Oberkörper wieder in meine Richtung dreht.

„Frohes neues Jahr." Hauche ich auch leise, immer noch in einer Art Trance, durch seinen Privatauftritt gerade eben.

„Weißt du... es gibt da noch eine kitschige Neujahrstradition." Oliver hat seine Stimme ebenfalls gesenkt und ich bemerke, dass er seine Hand über meine gelegt hat.

„Welche?" Will ich wissen und starre für einen kleinen Moment auf unsere Hände, bevor ich wieder auf und in Olivers Gesicht sehe.

Aber anstatt mir zu antworten, lehnt er sich nach vorne und gibt mir einen sanften Kuss auf die Lippen. Zuerst weiß ich nicht recht was ich davon halten soll, aber mir bleibt auch gar nicht genug Zeit, darüber nachzudenken. Denn der Kuss ist so schnell vorbei wie er begonnen hat und wir sitzen uns still und beide etwas peinlich berührt gegenüber.

„Tut mir leid, falls das jetzt unangebracht war." Murmelt Oliver nach einer Weile, in der er nur auf den stummen Fernsehbildschirm gestarrt hat.

„Nein. Ich meine- schon okay." Mit diesen Worten drehe ich mich wieder in seine Richtung und sehe ihn an.  Oliver dreht ebenfalls seinen Kopf zu mir und ein Lächeln beginnt sich auf seinen Lippen abzuzeichnen.

„Weißt du was diesem Moment ein kleines bisschen seiner Peinlichkeit nehmen würde?" Fahre ich dann fort.

„Hm?"

„Alkohol." Damit stehe ich auf und gehe in die Küche, nur um kurz darauf mit einer Flasche Tequila in den Händen zum Sofa zurückzukehren. „Ich weiß, die Tradition gebietet es Champagner zu trinken, aber um ehrlich zu sein, kann ich Champagner nicht wirklich leiden. Und außerdem hab ich nur Tequila da."

„Damit kann ich leben." Lacht Oliver, während ich zwei Shotgläser mit Tequila befülle und ihm eines davon reiche. „Auf das neue Jahr. Was auch immer es uns bringen wird."

„Amen!"

One More Night | ✓Where stories live. Discover now