Anton

8 3 0
                                    

17:56

Ich starre auf das Wasser. Es reflektiert das Licht der Sonne und lässt das Licht auf meiner Haut und meinen Klamotten tanzen.
„Anton?!", Ava's Stimme durch bricht die Ruhe. Irgendwie fühle ich mich beengt. Das hier ist mein Ort, und das weiß sie. Hier verbringe ich meine Zeit, wenn ich nachdenken will. Wenn sie hier einfach auftaucht fühlt es sich an, wie ein Eingriff in meine Privatsphäre.
„Anton, renn gefälligst nicht vor mir weg!" „Ich bin nicht vor dir weg-" „Und ob du das bist! Deshalb reden wir jetzt!", sie baut sie über mir auf und stemmt die Hände in die Hüfte. Ich bin schon heute morgen schlecht gelaunt gewesen, dann meint sie mit mir reden zu müssen, nur um ein weiteres Problem zu haben. Weil Ryan reicht ihr ja anscheinend nicht. Und jetzt hat sich meine Laune noch mal mehr verschlimmert. Wieso ist sie hier?! Es ist mein Platz!
„Dann red auch...",grummle ich, als Ava schweigt.
„Ich glaube du hast etwas in den falschen Hals bekommen!" „Hab ich das!?" „In der Tat! Ich habe nie behauptet, dass mir deine Probleme egal sind ich habe sogar das Gegenteil gesagt! Und ich habe auch nie behauptet, dass depressive irre sind! Oder sonst irgendwas, was du meinst mir unterstellen zu müssen! Ich habe lediglich versucht dir zu helfen! Und ich verstehe nicht, was dein verdammtes Problem ist!" „Mein Problem, Ava, ist, dass du meinst alles zu deinem Problem zu machen! Ich wollte nicht, dass du dir noch zusätzlich Sorgen machst, weil wie du so schön gesagt hast, du auch noch Ryan's Probleme hast. Aber genau das ist der Punkt, Ava! Es sind nicht deine Probleme! Es sind unsere. Vielleicht ist Ryan froh über eure Unterstützung. Aber ich brauche das nicht, verstehst du?! Ich muss das erst mit mir selbst klären. Ich kann dir nichts sagen, wenn ich selbst nicht weiß, was mit mir los ist. Und es macht mich einfach nur fertig, das jeder irgendetwas von mir will, jeder mir helfen will, wobei nicht mal ich weiß was los ist! Und dann brauche ich nicht hören, dass du mit mir ja nur ein weiteres Problem hast oder sollte ich depressiv sein, du mich als irre bezeichnest! Denn genau so hat es sich für mich angehört! Du redest und redest und merkst nicht, wie sehr du damit deine Umwelt eigentlich verletzt!" Ich bin aufgestanden und habe mich ihr gegenüber gestellt. Sie hat Tränen in den Augen. „Ich will nicht, dass du so von mir denkst! Das-das habe ich alles nie so gemeint...ich habe einfach nur das Gefühl dich zu verlieren." Sie schnieft. Aber ich werde sie nicht umarmen, noch trösten. Dafür bin ich nicht der Mensch. Und meine Wut auf sie ist noch immer nicht vergangen. Und das kann sie auch nicht mit ein paar Tränen wettmachen. Sie soll endlich merken, dass sie nicht immer drauf los reden kann.
„Hörst du Anton, ich hab Angst das du immer mehr in deinen Gedanken versinkst. Ich habe Angst dich an sie zu verlieren." Tja, auch ich habe Angst irgendwann in meinen Gedanken zu versinken und jeglichen Bezug auf die Außenwelt zu verlieren. Aber noch mehr habe ich Angst in dieser Gesellschaft hoffnungslos unterzugehen. Doch ich zucke nur mit den Schultern. „Das ist doch jetzt nicht dein Ernst?! Ein bescheuertes Schulterzucken?! Was willst du mir damit sagen? Das es dir egal ist, wovor ich Angst habe?! Bin ich dir egal? Ist dir unsere Freundschaft gleichgültig?" Überrascht sehe ich sie an. Ich könnte mir kein Leben ohne Ryan und Ava vorstellen. Sie sind wahrscheinlich die einzigen Menschen die mich noch ansatzweise verstehen.
Der Himmel färbt sich langsam dunkler. Man spürt, dass der Herbst sich nähert.
„Natürlich nicht!", sage ich entgeistert. „Dann erklär's mir Anton. Erklär mir das", sie zuckt übertrieben mit ihrer Schulter. „Genau das ist doch was ich meine! Du setzt mich unter Druck dir eine Antwort zuliefern, die ich selbst nicht mal kenne!",werfe ich ihr vor und deute mit der Hand auf sie. Sie weiter die Augen. „Du wirst doch wohl wissen, ob dir unsere Freundschaft wichtig ist?!" „Das meine ich überhaupt nicht! Ava, ich habe selbst Angst, falls es das ist, was du hören möchtest! Und zwar große!" „Wovor denn?", drängt sie mich. „Ich weiß es verdammt noch mal nicht!",schreie ich sie an. „Das ist doch das was ich versuche zu erklären! Aber du hörst mir ja nicht einmal richtig zu!" „Ich? Ich soll dir nicht richtig zu hören? Du verstehst doch die ganze Zeit andere Sachen, die ich nie gesagt habe!" „Mir ist das hier echt zu blöd!", kopfschüttelnd laufe ich an ihr vorbei in den Wald hinein. Lasse Ava an meiner Lichtung mit dem kleinen Bach und der Stille und dem Frieden, der dort mal geherrscht hat, zurück. „Anton!", schreit sie aufgebracht. Ich höre Äste hinter mir knacken und vermute, dass sie mir folgt. „Anton! Anton du rennst jetzt gefälligst nicht vor diesem Problem weg!" Ich lache verbittert. „Dieses Problem steht doch schon länger zwischen uns! Du bist nur zu sehr mit dir selbst beschäftigt, um es zu realisieren!" „Das ist nicht fair!",höre ich sie schluchzen. Ihr Stimme ist ungewohnt hoch. „Bleib gefällst stehen und rede mit mir!"
„Mir ist aber jetzt nicht nach reden!",brülle ich sie an. Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihr. Mein Herz rast. Ich hasse es zu streiten. „Dir ist nie zum reden! Du hasst es zu reden! Und genau deshalb bist du froh, dass du mich hast! Das ich für dich das Reden übernehme! Deshalb kannst du mir keine Vorwürfe machen! Du kannst nicht behaupten ich solle gefälligst darüber nachdenken, was ich sagen. Du kannst es nicht sagen, weil du insgeheim froh darüber bist!" Wir greifen so schnell neue Dinge auf, dass ich fast nicht mehr mitkomme. Einen Augenblick bleibe ich stumm. Brauche Zeit um zu verdauen, was wir uns gegenseitig an den Kopf geworfen haben. „Ich hab recht nicht wahr?!" Ja hat sie. Ich bin froh, wenn sie das Reden übernimmt. Plötzlich sind meine Argumente verschwunden. Ich bin sauer, aber weiß nicht mehr genau warum. Ich habe das Gefühl, dass ich übertrieben habe. Aber ich will nicht einfach nachgeben. Stumm starre ich sie an. Ihre braungrünen Augen sind auf mich gerichtet. Starren mich wütend an. „Wie kommst du bitte darauf, dass ich nur mit mir selbst beschäftigt wäre? Hast du eine Ahnung, dass ich meine ganze frei Zeit verwende um irgendeine Lösung für eure Probleme zu überlegen!" Plötzlich ist die Wut zurück. „Niemand hat dich gebeten, dich darum zu kümmern!" „Ach ja, Anton? Und was würde Ryan machen, wenn ich nicht da wäre? Du bist doch hier der Jenige der viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, dass du nicht mal Gedanken für ihn übrig hast. Stattdessen versinkst und lieber in der Trauer um deinen Vater! Er kommt nicht wieder!" „Sag das nicht!" „Ach Anton ich bitte dich! Du weißt ganz genau was die Ärzte gesagt haben! Er ist Hirntod, aber ihr seid einfach nur zu stur um zu begreifen, dass er tot ist!" Verletzt sehe ich sie an. Das nennt sie also sich mit unseren Problemen auseinandersetzen? „Anton, das habe ich nicht so gemeint-" „Doch! Genau so hast du es gemeint! Danke dass du zu mir ehrlich warst!", damit wende ich mich von ihr ab und renne los. Ich habe das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. Es fühlt sich an, als hätte Ava alte Wunden wieder aufgerissen, Salz hineingestreut, mit einem Messer darauf eingestochen, die Wunde noch mehr aufgerissen, bis sie mir meine gesamte Haut abgerissen hat. Ich möchte am liebsten laut schreien, in Tränen ausbrechen oder um mich schlagen. Aber ich renne einfach nur. Meine Sicht ist verschwommen, aber nicht wegen Tränen. Mir ist schlecht. Ich stolpere über einen Ast und falle. Aber ich spüre keinen Schmerz. Da ist nichts was ich fühlen könnte. Es scheint als wäre ich nichts weiter als eine Hülle, ohne jegliche Gefühle. Was denkt sich Ava? Dass sie mir mit diesen Worten hilft? Dass ich wirklich froh darüber bin, dass sie immer spricht? Meine Gedanken rasen. Alles um mich herum ist dumpf. Ich starre die Blätter vor mir auf dem Boden an. Er ist Hirntod, aber ihr seid einfach nur zu stur um zu begreifen, dass er tot ist! Wie kann sie das einfach so sagen? Meint sie, ich weiß nicht, dass er tot ist?! Meint sie mir fällt es leicht immer wieder mit meiner Mutter zu ihm zu gehen. Ihn da liegen zu sehen, an den ganzen Schläuchen, wobei ich ganz genau weiß, dass er nicht mehr aufwachen wird?! Wie soll ich meiner Mutter den beibringen, dass er tot ist, ohne dass sie völlig ausflippen wird?
Mir zieht sich das Herz zusammen.
Ich höre Äste knacken. Aber Ava scheint an mir vorbeizugehen. Sie weiß, dass sie mich jetzt in Ruhe lassen sollte.
Und so liege ich auf dem Boden. Der Himmel wird immer Dunkler und der Boden immer kühler. Ich weiß nicht, wann ich mich dann endlich aufraffe, jedenfalls ist es da bereits dunkel.

„Anton? Wo warst du?", fragt mich May. Sie sitzt in der Küche, am Tisch und lernt für ihren Abschluss. Sie hat ihre Haare zu einem unordentlichen Dutt gemacht und kaut auf einem Bleistift herum. Ich ziehe meine Jack aus, die etwas schmutzig geworden ist und schmeiße sie in die Ecke. Dann gehe ich zum Kühlschrank und nehme mir Orangensaft heraus. „Anton?!" Ich zucke mit den Schultern und stelle die Flasche wieder in den Kühlschrank. Ohne ihr zu antworten gehe ich in mein Zimmer. Aber May wäre nicht May, wenn sie mir nicht hinterherlaufen würde. Ich lasse mich auf mein Bett fallen und vergrabe mein Gesicht im Kissen. „Hast du mit Ava gesprochen?", fragt sie vorsichtig. Ich bleibe stumm. Mir ist jetzt wirklich nicht nach einer Konversation. „Anton, rede mit mir..." Mir ist verdammt noch mal nicht nach reden! Ich hasse reden! „Egal was Ava gesagt hat, sie ist deine Freundin. Sie würde nicht absichtlich sagen, was dich verletzt!" Das ich nicht lache. Ihre letzten Worte hörten sich für mich aber alles andere als danach an. „Sie macht sich doch nur Sorgen, sowie Mom und ich auch." Sie greift meine Hand und drückt sie. Ich entziehe sie ihr und hebe meinen Kopf um sie anzusehen. „Mir ist jetzt nicht nach reden!" „Anton, du kannst dich nicht ewig zurück-" „Was kann ich nicht?! Mich zurückziehen! Und ob ich das kann!" Je mehr ihr mich unter Druck setzt, desto mehr werde ich mich zurück ziehen! Wieso versteht keiner, dass ich einfach Zeit für mich brauche! „Anton, bitte...",fleht sie. Ihre Augen sind groß und glänzen. Was will sie von mir?
„Ich brauch doch einfach Zeit für mich! Wieso versteht das keiner!",sage ich etwas lauter. May kommt jedoch gar nicht dazu mir zu antworten. Denn in dem Moment schließt Mom die Haustür auf und ruft in die Wohnung: „Hallo...kommt ihr?" Es ist Donnerstag. Dass heißt wir werden Dad im Krankenhaus besuchen. Sowie jeden Donnerstag.
May sieht mich einen Augenblick abwartend an, dann verlässt sie mein Zimmer. Mir wird schlecht an dem Gedanken ihn gleich wieder an dem ganze Schläuchen hängen zu sehen.
Mir ist schlecht, aber ich raffe mich dennoch auf. Für Mom.

Im Auto herrscht Stillschweigen. Mom scheint keinen guten Tag auf der Arbeit gehabt zu haben. May hängt ihren eigenen Gedanken hinterher und schaut mich ab und zu über den Rückspiegel an. Ich versuche das flaue Gefühl in meinem Magen zu ignorieren und schlucke den dicken Klos runter. Es fühlt sich jedes Mal an wie Folter. Jedes Mal wenn ich den Raum betrete in dem er liegt, kommt es mir so vor, als hätte man uns gerade erst von seinem Tod berichtet. Am Krankenhaus angekommen parken wir im Parkhaus. Wie jedes Mal auf Etage drei. Mom und May unterhalten sich über den bevorstehenden Abschluss, den May dieses Jahr voraussichtlich absolvieren wird. Ich schlürfe ihnen hinterher. Immer wieder höre ich Ava's Stimme in meinem Kopf. Es muss gerade mal vor zwei Stunden gewesen sein.
Wir laufen gemeinsam durch die Flure des Krankenhauses und betreten dann das Zimmer. Ich zu letzt. Habe meinen Blick auf den Boden gerichtet. Heute schaffe ich das einfach nicht. Mir wird alleine bei dem Gedanken, dass ich ihn vor mir liegen habe, aber irgendwie auch wieder nicht, schlecht.
„Hallo Sam",begrüßt ihn meine Mom. Ich sehe wie ihre Beine auf das Bettgestell zu gehen und weiß, dass sie sich zu ihm aufs Bett gesetzt hat.
„Hey Dad." May's Stimme ist belegt. Mir steigt der Geruch des Krankenhauses in die Nase und ich muss gegen die Übelkeit ankämpfen. Es ist irgendwie merkwürdig. Wir machen das jetzt schon fast ein Jahr und es immer noch nicht wirklich zur Routine geworden. Es ist immer noch komisch ihn da so reglos liegen zu sehen.
Mom beginnt ihm von ihrem Tag zu erzählen. Ich lehne mich am die Wand und schließe die Augen.

„Okay Anton und jetzt musst du ziehen. Und laufen, laufen, laufen!", ruft mir Dad zu. Ich renne los. Ziehe an dem bunten Drachen. „Scheller, Anton! Mehr ziehen." Der Drachen steigt immer höher. Bis die Schnurr gespannt ist und ich den Widerstand des Windes spüre. „Schau Dad! Er fliegt!",rufe ich ihm vergnügt zu. „Jaaaa Anton. Sehr gut!" Er joggt zu mir rüber. Wind weht mir meine Haare ins Gesicht. Plötzlich wird der Wind stärker und ich habe Angst, dass mir der Drachen entreißt. „Dad! Dad!" Dann spüre ich seine große Hand  über meiner kleinen und die Panik, dass der Drachen sich selbstständig macht ist verschwunden. „Ich bin da Anton. Keine Sorge."

Nein! Er ist eben nicht da! Er wird auch nie wiederkommen. Es werden keine neuen Erinnerungen dazu kommen und schlussendlich ist alles was mir an ihn bleibt Erinnerungen.
„Ich-ich gehe mal eben raus...",sage ich mit erstickter Stimme. Ohne auf eine Antwort der beiden abzuwarten, stoße ich mich von der Wand an und verlasse das Zimmer. Ich blinzle um nicht jetzt und hier in Tränen auszubrechen. Mir ist schlecht. Schnell renne ich aus dem Gebäude um mich dann im Gebüsch zu übergeben. Hysterisch schnappe ich nach Luft.
„Geht es Ihnen gut?",höre ich eine weibliche Stimme sagen. Ich blicke auf und sehe eine junge Krankenschwester sie steht in der Tür. Ich blinzle und versuche die Übelkeit zu unterdrücken. „J-ja. Alles bestens..." Dann ist die Krankenschwester wieder verschwunden. Und ich bin alleine.

Weil wir Freunde sindWhere stories live. Discover now