Anton

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20:25

    „Wann kommt er denn endlich? Wir verpassen noch den Bus wegen ihm!" ,Ava schaut auf ihre Uhr. Das macht sie jetzt schon zum zehnten Mal. „Meinst du wir sollen mal reingehen?" Unschlüssig sehe ich das Haus vor mir an. Es ist etwas anderes hier draußen auf ihn zu warten als rein zugehen. Ich war bis jetzt erst einmal drinnen gewesen. Und ich habe mir geschworen nie wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzten. Ich zucke mit den Schultern. Ich will diese Entscheidung nicht treffen. Das soll Ava entscheiden. Sie sieht auch unschlüssig aus. Dann aber, und das überrascht mich, geht sie auf den Eingang zu. Nach kurzem Zögern folge ich ihr.
Ryan wohnt im dritten Stockwerk. Nach einem Aufzug sucht man hier vergeblich. Die Stufen im Treppenhaus sind abgewetzt. Das Treppengeländer fasse ich lieber nicht an, wer weiß was für Bakterien sich daran befinden. Der einzige Vorteil den das Treppenhaus hat ist, dass keine Farbe von der Wand abblättert. Aber das liegt daran, dass man sich gar nicht erst sie Mühe gemacht hat sie zu streichen.
Die Deckenbeleuchtung flackert und macht mich krank.
„Ich weiß ganz genau, warum ich hier nie wieder einen Fuß reinsetzen wollte",murmle ich leise. Sehe mich dann vorsichtshalber um. Man hat hier das Gefühl alles und jeder könnte einen sehen und hören. Und bei den Leuten die hier wohnen, möchte ich lieber etwas Vorsprung haben, sollte ich rennen müssen. Ava sieht mich wissend an. Ihr scheint es nicht anders zu gehen.
Im dritten Stock angekommen schnaufe ich. Ich bin ja sowas von unsportlich. Schon von weitem sehe ich jemanden auf dem Boden kauern. Mir ist sofort klar das es Ryan sein muss. Es kommt von der Entfernung zu ihrer Wohnung hin. Ava scheint das gleiche zu denke und sieht mich an. Ihre Augen sind groß. Er scheint uns nicht kommen zu hören. Als wir nah genug bei ihm sind, wird mein Verdacht bestätigt. Es ist Ryan. Er hat die Beine angezogen und umklammert sie mit den Armen.
„Ryan?",fragt Ava vorsichtig. Erschreckt hebt er den Kopf. Keine Sekunde später steht er und taumelt etwas von uns weg. Seine Hand sucht halt an der Wand. Mit der anderen Hand wischt er sich Tränen aus dem Gesicht. Seine Augen sind rot, ebenso seine Nase.
„Was machst du hier draußen?" Er blinzelt und sieht uns an wie zwei Fremde. Dann kommt er plötzlich zu sich. „Ich...",er räuspert sich, „ich komme nicht mit ins Kino. Geht ihr ruhig." „Was ist passiert?",frage ich ohne auf seine Worte einzugehen. „N-nichts...ich hab nur eben Natasha was gebracht und dann vergessen den Schlüssel mitzunehmen." Er sieht aus wie ein verletztes Reh. Auch wenn er sich bemüht eine aufrechte Haltung einzunehmen.
„Verdammt noch mal Ryan! Wir sind deine Freunde uns kannst du doch sagen was passiert ist", Ava klingt nicht wütend, mehr gekränkt. „Wie gesagt ich hab den Schlüssel vergessen..." Ryan ist groß und recht breit gebaut für sein Alter. Sein verletztes Verhalten sieht deshalb etwas widersprüchlich aus. „Ihr könnt ruhig gehen, ich warte bis Evelyn nach Hause kommt." Normalerweise müsste seine Mutter längst Zuhause sein. Er merkt selbst wie unglaubwürdig seine Lügen klingen, aber er hält daran fest.
Ava sieht Ryan an, dann geht sie auf ihn zu und nimmt ihn in den Arm. Drückt ihn fest an sich. Ich sehe wie gut ihm diese Umarmung tut. Und dann fließen bei ihm erneut die Tränen. Er klammert sich an ihr fest.
Etwas weiter hinten geht eine Tür auf. Zwei große breitgebaute Kerle betreten den Flur. Ich ordne sie automatisch eine Motorradgang zu. Zwar kenne ich sie nicht, aber sie sehen wie diese typischen Rocker-Motorradfahrer aus.
Mit einem merkwürdigen Blick auf uns drei gehen sie an uns vorbei. Als sie etwas weiter weg sind und sie glauben wir höre sie nicht mehr sagt der eine zum anderen: „War das nicht der Älteste von der Nutte?" Was der andere sag hören wir nicht mehr. Ryan hat sich von Ava gelöst und wischt sich eilig die Tränen weg. Es dauert einen Moment bis die Worte des Motorradfahrers zu mir durchsickern. Nutte? Ich habe Ryan's Mutter erst einmal gesehen. Ich müsste lügen, würde ich behaupten sie sähe nicht gut aus. Sie ist erst fünfunddreißig und hat sich dafür verdammt gut gehalten. Man könnte fast meinen es wäre Ryan's ältere Schwester. Ryan hat optisch vieles von ihr. Zum Beispiel die schwarzen Haare oder die blauen Augen.
Zwar habe ich seine Mutter erst das eine Mal gesehen, aber sie machte auf mich einen relativ normalen Eindruck. In keiner Weise schlampig oder nuttig.
„Wollen wir raus gehen? Etwas frische Luft schnappen?", fragt Ava. Aus meinem Mund will kein Wort kommen. Mich überfordert die Situation einfach nur. Würde ich jetzt nicht sofort agieren müssen und würde zum Beispiel in meinem Bett liegen, könnte ich viel schneller und viel klarer einen Entschluss, ein Entscheidung treffen. Aber jetzt und hier bin einfach nur froh Ava dabei zuhaben.
Ryan schüttelt schwach den Kopf. „Ihr...",er räuspert sich, „könnt wirklich gehen. Ich warte hier..." Diesmal schüttelt Ava den Kopf. „Erst wenn du uns sagst, was wirklich los ist!" „Geht bitte einfach...",fleht Ryan. Aber wir rühren uns nicht. „Bitte..." „Wir versuchen dir doch nur zu helfen, Ryan." Sein Gesichtsausdruck ändert sich. „Ich brauche eure Hilfe aber nicht!",faucht er. Blinzelt dann aber verräterisch und schaut in das grelle Licht über ihm. Plötzlich geht die Tür auf. Ein junger Mann, wahrscheinlich um die fünfundzwanzig, mit kurzen braunen Haaren und ebenso braunen Augen kommt aus der Wohnung. Aus dem Augenwinkel sehe ich wie Ryan verkrampft. Hinter dem Mann steht Ryan's Mutter. Halb nackt. Schnell sehe ich weg. Es ist mir etwas peinlich Ryan's Mutter so freizügig gesehen zu haben. Stattdessen folgt mein Blick dem Mann, der sich den Hosenstall zu macht. Es dauert keine Sekunde da macht es bei mir Klick. Mein Blick schnellt zurück zu Ryan. Dieser stürmt auf die Tür zu. Aber seine Mutter knallt sie ihm vor der Nase zu. Er tritt gegen die Tür. Hämmert mit den Fäusten dagegen.
Aber alles was er bekommt sind die Worte:„Geh doch zu deinem Vater, wenn du ihn so gerne kennenlernen möchtest!" „Fick dich! Lass mich rein!" Sie lacht. „Das hat Harry gerade erledigt!" „Gib mir wenigstens Elias und Tilo...",sagt er etwas leiser. Keine Antwort. „Ich hetz dir das Jugendamt auf den Hals!",brüllt er denn völlig außer sich. Ein letzter wütender Tritt gegen die Tür. Dann lässt er sich gegen die Tür fallen und rutscht an ihr hinab.
Ich bin völlig überfordert. Unschlüssig stehe ich da. Starre Ryan an und versuche das Gesehene zu verarbeiten. Was ist gerade passiert? Hat Evelyn wirklich ihren Sohn rausgeschmissen? Immer wieder sehe ich den Kerl aus der Tür kommen und dann Ryan auf die sich schließende Tür zu stürmen. Was ist sie für eine Mutter, dass sie Ryan einfach so aussetzt?
„Ryan...",beginnt Ava, aber sie bricht ab. Auch ihr scheinen die Worte zu fehlen. Wir wussten, dass seine Situation Zuhause nicht die beste ist. Aber das sie so schlimm ist, damit habe ich nicht gerechnet.
Plötzlich steht Ryan auf. Mit wütenden Schritten stapft er den Flur runter. Wir folgen ihm. Was hat er vor?
Vor dem Haus klärt sich die Situation auf. Ryan rennt dem Kerl, der eben noch aus seinem Zuhause kam, hinterher und schreit ihn an. Verwundert dreht sich der Kerl um. Er sieht mehr als nur schmierig aus. Ehe er sich versieht hat er Ryan's Faust im Gesicht. Erschrocken taumelt der Kerl zurück. Ryan schüttelt seine rechte Hand. Seine Schlaghand. „War's gut? War schön neben zwei Kinder zu vögeln was?!", Ryan tobt und ehe sich der Kerl sammeln kann landet Ryan's Faust erneut in seinem Gesicht.
„Du betrittst diese Wohnung nie wieder haben wir uns verstanden!" „Das hat wohl immer noch deine Freundin zu entscheiden!",lacht er. Ava sieht mich an. So als wolle sie mir sagen, dass ich eingreifen sollte. Aber ich kann nichts anderes machen, als zuzusehen. Ich bin nicht Ryan. Ich hatte noch nie in meinem Leben eine Prügelei. Für sowas bin ich nicht gemacht. Mir wird schlecht als ich Ryan's Nase brechen höre. Allem Anschein nach hat der Kerl zum Gegenschlag ausgeholt. Ich bemerke wie uns die Motorradfahrer von ihren Motorrädern aus ansehen. Auch die Prostituierte, Natasha glaube ich, sieht uns an. In ihrer Hand hält sie eine Bierflasche. Ich fühle mich hier nicht wohl. Das ist nicht meine Gegend! Würde Ryan hier nicht wohnen, würde ich nie im Leben hierher kommen. „Sie ist meine Mutter!",schreit Ryan wütend. Ich weiß nicht mal auf wen er sauer ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass seine eigentliche Wut dem Kerl gilt. Aber es ist für ihn einfacher einen Fremden zu verkloppen als seine eigene Mutter. Ich weiß nicht, was zwischen Ryan und Evelyn vorgefallen ist, aber es scheint Ryan mehr als nur gekränkt zu haben.
Der Kerl lacht noch lauter. Ryan brüllt:„Ich schlag dir deine Visage blutig, bis du nicht mehr sieht, du Dreckskerl!" Der Kerl antwortet mit einem Tritt in Ryan's Magengrube. Ryan krümmt sich zusammen und gibt ein Japsen von sich. Mir wird schlecht.
„Anton!", Ava krallt sich an meinen Arm. „Mach was..." Ich kann meinen Blick nicht vom Geschehen abwenden. Ryan geht zu Boden, nachdem Drecksack ihn erneut getreten hat.
„W-was soll ich machen?",frage ich heiser. „Irgendwas! Mach irgendwas, damit er aufhört!",schreit sie mich panisch an. Nicht zu laut. Sie hat Angst zu viel Aufsehen in dieser Gegend zu erregen.
„R-Ruf du die Polizei, ja?",sage ich zu ihr, ehe ich mit wackligen Beinen Schritte auf den Drecksack zugehen. Stärke zeigen! Keine Angst! Dann schüchterst du sie automatisch ein! Super Idee Anton! Super! Ich mache mir vor Angst gleich in die Hose. Ich habe mich noch nie geprügelt. Für Ryan! Für den Jungen, der sich seit dem Kindergarten für dich prügelt! Ich schlucke den Klos runter und packe den Drecksack von hinten. Er hatte sich zu Ryan runter gekniet und ihn fast ohnmächtig geschlagen. Ich ziehe ihn von Ryan fort. Reden oder schlagen? Reden oder schlagen? Wütende Augen sehen mich an. Schlagen! Ohne weiter zu überlegen hole ich mit der Faust aus und treffe voll in sein Gesicht. „Scheiße tut das weh!" Nein, es ist nicht der Drecksack der das gesagt hat. Ich war das! Drecksack lacht. Besteht er aus Stein?
Dann habe ich seine Faust im Gesicht. Ich sehe Sterne. Ich schrei auf. Verdammte Kacke, tut das weh! Es dreht sich in meinem Kopf. Ich habe das Gefühl jeden Moment zusammen zuklappen! Reiß dich zusammen, Anton! Sei endlich ein Mann! Ich blinzle und will gerade zum erneuten Schlag ausholen, da landet seine Faust erneut in meinem Gesicht. Das ist das Ende! In mir schreit alles danach weg zu rennen. Die Beine in die Hand zu nehmen, so wie ich es immer in brenzlichen Situation mache. Ich würde mich am liebsten zurückziehen und jemand anderem den Mittelpunkt überlassen. Ich stöhne auf. Du tust das für Ryan! Rede ich mir ein. Ich kann nur hoffen, dass die Polizei jeden Moment eintrifft.
Er greift mich am Kragen und schubst mich neben Ryan zu Boden. Mein gesamter Körper schmerzt. Ich würde am liebsten heulen. So wie ich es tue, wenn niemand dabei ist, nachts unter meiner Bettdecke oder im Wald. Dann höre ich die Sirene. Erleichtert atme ich aus, als ich das Blaulicht aus zusammengekniffenen Augen sehen. Drecksack versucht zu fliehen. Mehr bekomme ich nicht mit. Ich bleibe einfach auf dem kühlen Boden liegen. Eigentlich wollten wir nur ins Kino! Mein Kopf hämmert. Mir ist schlecht. Wenn mich meine Mutter sehen würde, würde sie wahrscheinlich an einem Herzinfarkt sterben. Ich spüre wie mir Blut die Schläfe hinunter läuft. Meine Lippe ist aufgeplatzt. Der Typ wusste, wie man zuschlägt! Ich bemerke, wie sich Stille über den Hof legt. Ryan rappelt sich mühsam und stöhnend auf. Dann hält er mir eine Hand hin. Aus kleinen Augen sehe ich ihn an. Dann lasse ich mir von ihm aufhelfen. Ava erscheint neben ihm. Diese blöde Kuh! Hat sie mich wirklich zu einer Prügelei angestiftet. Nächstes Mal kann sie sich selbst prügeln! Und dann erlaubt sie sich auch noch zu grinsen. Sie grinst! Ich fasse es nicht! „Anton, Anton, ich bin baff. Ich hätte echt nicht gedacht, dass du das wirklich machst." Wie-wie kann sie das jetzt sagen? Ich bin froh überlebt zu haben! Vielleicht habe ich ein schlimmes Schädelhirntrauma. Und sie will meinen Mut loben? Ist das ihr Ernst?
„Danke...",sagt Ryan. Schwankt er? Nein, ich schwanke! Vielleicht habe ich wirklich ein Schädelhirntrauma!
„Anton, alles okay?",fragt Ava nun besorgt. Doch ehe ich ihr antworten kann kotze ich ihr vor die Füße. Angewidert springt sie einen Schritt zurück.
Dann kommt ein Polizist zu uns. Er fragt uns Dinge und Ava antwortet. „Wer hat die Schlägerei begonnen?" Mir rutsch das Herz in die Hose. Ryan ist so verletzt, wegen dem was seine Mutter ihm angetan hat, er wird es nicht aushalten jetzt wegen einer Schlägerei in den Knast zu wandern. Geht das überhaupt? Gott, ich sollte mir wirklich mal mehr Allgemeinbildung anschaffen. Heißt es in dem Fall anschaffen? „Das war ich, Sir." Ryan steht da. Ich sehe seinen Schmerz in den Augen. Aber er versucht selbstbewusst zu wirken. Wie jemand der gegen den Rest der Welt ankommt.
„Und Mister Bane hat sich gewehrt mit körperlicher Gewalt?" Drecksack klingt besser! „Ja! Und selbst als er klar der Überlegenere war hat er nicht aufgehört!",mischt sich Ava ein. „Also gehe ich richtig der Annahme das es in einer Prügelei ausgeartet ist?" Er ist doch wegen einer Prügelei hier, oder etwa nicht? Man, die Behörden sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. „Korrekt." Ava wirft mir einen besorgten Blick zu. „Sollen wir einen Krankenwagen rufen?", fragt mich der Polizist. Sei ein Mann und sag Nein. „Wäre besser...",murmle ich. Immer noch schwankend. Soviel zum Thema Mann! Ist mein Kiefer gebrochen? Ich habe das Gefühl in nicht richtig bewegen zu können. In meinem Kopf explodiert es noch immer. Verflucht wieso sollte man noch was trinken wenn man sich auch mit einer Prügelei alle Gehirnzellen vernichten kann? Der Polizist sieht mich besorgt an, während er in sein Funkgerät spricht. „Ihre Namen, bräuchte ich noch." „Anton Sawyer. S-A-W-Y-E-R",buchstabiert Ava meinen Namen. „Ryan Anderson und Ava Miller." „Gut. Ich denke Mister Bane wird keine Anzeige erstattet. Aber falls doch, sollten sie sich darauf gefasst machen Mister Anderson. Ebenso könnte es Ihnen ergehen Mister Sawyer. Möchten Sie noch etwas los werden? Eine Strafanzeige stellen?" Wir drei bleiben stumm. „Gut, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend und halten sie sich demnächst von Ärger fern." Überrascht über die nicht vorhandene Strafe sehe ich ihm hinterher. Was ist jetzt mit dem Krankenwagen? Aber ich sehe bereits das ein weiteres Blaulicht hinzugekommen ist. Ryan greift  mir unter die Arme und gemeinsam gehen wir auf den Krankenwagen zu.

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