Ava

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7:30

   Anton steht wie immer pünktlich vor unserem Haus. Ich winke ihm durch das Fenster, aber er sieht mich nicht. Er starrt einfach Löcher in die Luft. Er sieht aus, als hätte er die ganze Nacht, mal wieder, nicht geschlafen.
„Soll ich Ryan schlafen lassen?",frage ich meine Mutter. Sie sitzt am Esstisch und schlürft ihren Kaffee. „Schätzchen ich glaube das wäre besser. Ryan braucht jetzt erst einmal Ruhe. Ich bleibe heute hier und schau mal, ob ich ihm helfen kann." „Soll ich auch hier bleiben?" „Nein, geh du ruhig in die Schule, Liebling. Ich glaube Ryan könnte jetzt eine Mutter und nicht eine Freundin gebrauchen." Vielleicht hat sie recht. Aber es fühlt sich falsch an zu gehen. „Danke, Mom", ich drücke sie kurz und hole dann leise meine Tasche aus meinem Zimmer. Ryan liegt noch immer in meinem Bett. Er sieht viel jünger aus, wenn er schläft. Als er heute Nacht reingekommen ist, habe ich schon halb geschlafen. Ich habe zwar versucht wach zu bleiben, aber ich konnte nichts gegen die überwältigende Müdigkeit machen. Er hat sich ganz leise zu mir ins Bett gelegt. So wie in alten Zeiten. Wenn wir uns um die Bettdecke gestritten haben. Jetzt hatte jeder eine eigene Bettdecke. Ich schultere meine Tasche und verlasse dann leise mein Zimmer.

„Morgen." Er blickt auf und lächelt matt. „Bleibt Ryan heute hier?",fragt er dann leise. Er stößt sich vom Pfosten ab und vergräbt seine Hände in seinen Hosentaschen. Ich nicke zur Antwort. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zur Bushaltestelle. Aus dem Augenwinkel heraus erkenne ich wie schlecht Anton aussieht. Wann hat er das letzte mal geschlafen? Er ist blass und hat tiefe Augenringe. „Wie geht's ihm?", fragt Anton nach einiger Zeit des Schweigens. „Keine Ahnung. Er hat geschlafen, als ich gegangen bin. Aber er ist gestern noch ziemlich lange draußen gewesen, bevor er reingekommen ist. Ich glaube ihn macht das verdammt fertig. Was ich auch voll nachvollziehen kann, aber es ist trotzdem komisch ihn so zu sehen." Anton nickt. „Ich versteh nur nicht, warum er uns nicht schon früher davon erzählt hat." Es dauert bis er mir antwortet: „Ryan macht gerne Dinge für sich aus, das weißt du." „Ja sicher. Trotzdem." Ich sehe Anton an. „Was meinst du, sollen wir machen? Ich meine, wir können doch nicht einfach Elias und Tilo dieser-dieser Irren überlassen!" „Evelyn ist keine Irre! Sie ist depressiv!" „Sorry",grummle ich. Ich kann diese Frau nicht leide. Was vielleicht auch daran liegt, dass ich noch nie etwas Gutes von ihr gehört habe. „Ich finde das ist Ryan's Sache. Wir können ihm nicht einfach die Familie wegnehmen, nur weil wir denken, dass es das Beste für ihn ist. Und das ist es! Evelyn ist meiner Meinung nach unfähig Mutter zu sein, aber sie ist nun mal Mutter und wenn dann sollte Ryan daran etwas ändern!" „Aber wir können doch nicht einfach Nichts tun, Anton!" „Doch, können wir! Und das müssen wir, wenn wir es uns mit Ryan nicht verscherzen wollen!" „Dann verscherze ich es mir lieber mit Ryan, als, dass er völlig kaputt daran geht!" Daraufhin fällt Anton nichts mehr ein. Natürlich weiß ich, dass es Ryan's Sache ist. Aber ich kann auch nicht einfach zu sehen, wie er daran zu Grunde geht. Wäre es andersrum, würde er auch versuchen, dass es mir gut geht.
„Ich finde es ist Ryan's Sache",sagt er dann schließlich erneut. „Genug von Ryan! Du gefällst mir nicht Anton. Wann hast du das letzte mal geschlafen?" Fragend sehe ich ihn an. Er starrt den Boden an und scheint die Steine zu zählen. Sein Gang ist gebeugt. Als würde eine schwere Last auf ihm lasten. „Anton?!",frage ich mit Nachdruck. „Vor drei Tagen." Drei Tage hören sich erst einmal nicht viel an. Aber wenn ich überlege, dass ich bereits unausstehlich und unglaublich gereizt bin, wenn ich nur einen Tag nicht schlafe, will ich nicht wissen, wie ich bin, sollte ich mal so lange nicht schlafen. „Was hält dich wach?" Ihm hängt eine Haarsträhne ins Gesicht, während er weiterhin den Boden anstarrt. „Meine Gedanken",er zuckt mit den Schultern. „Über was denkst du nach?"
„Über das Leben. Dies das Ananas." Ich verdrehe die Augen. Es war so klar, dass er irgendetwas blödes sagt, um das Ganze runter zu spielen. Aber es ist nicht zu unterschätzen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie erschöpft er sein muss. „Warst du schon beim Arzt?"
„Nein....aber Mom und May wollen, dass ich zu einem gehe." „Damit habe sie auch recht, das ist echt nicht mehr gesund." Er zieht die Augenbrauen hoch, dann zuckt er mit den Schultern. Ich öffne den Mund und will etwas sagen. Kann ich ihn das fragen? Fragt man das eine Person? Ich hege schon länger den Verdacht, aber sicher bin ich nicht. Wird er falsch reagieren. Aber mal wieder ist mein Mundwerk schneller, als mein Hirn. „Anton? Bist du depressiv?" Was für eine Frage? Wie kann man es nur so ungeschickt fragen? Man kann das doch nicht einfach so fragen, oder? Außerdem ist Anton kein Arzt, er wird das also selbst nicht wissen, oder? Ich könnte mich ohrfeigen für diese dämliche Frage. „Also ich meine...",ich stocke. Was kann ich denn jetzt bitte sagen? „Ich meine mir ist klar, dass dich das mit deinem Vater sehr mitgenommen hat, aber...aber es ist jetzt schon ein Jahr her..." Anton schaut überrascht auf. „Ich mach mir sorgen, weißt du. Vielleicht kommt der Schlafmangel ja davon. Weil ich hab das mal gegoogelt und da wurden Schlafstörungen als Zeichen einer Depression beschrieben." Doof, Ava! Einfach nur doof! Warum sagst du sowas? Denk doch bitte erst einmal nach, bevor du redest!
„Ava, ich-" „Ach vergiss es, es tut mir leid. Ich-es ist nur so, erst Ryan jetzt du. Ich weiß einfach nicht was ich machen soll. Ihr beide wirkt mir in letzter Zeit so distanziert und unerreichbar. Ich will euch doch nur helfen, aber ich weiß einfach nicht wie. Ich mach mir einfach nur sorgen." Mir zieht sich das Herz zusammen. Ich bin stehen geblieben und sehe zu Anton hoch. Mir sind sogar Tränen in die Augen getreten. Ich komme mir in letzter Zeit vor, als wäre ich von laute Problemen umgeben. Probleme gegen die ich nichts machen kann.
Anton mustert mein Gesicht. Er sieht am jüngsten von uns aus. Das kindliche hat ihn noch nicht ganz verlassen, so wie es Ryan schon längst verlassen hat. Anton sieht irgendwie traurig aus. „Versprich mir bitte einfach nur, dass du nichts blödes machst und zu mir kommst und mit mir redest, wenn es dir schlecht geht, ja?",flehend sehe ich ihn an. Er starrt mir in meine Augen. Seine Augen sind braun. Mich haben sie irgendwie immer an einen süßen Bär erinnert. Er weiß, wie wichtig mir sein Wort ist. Das weiß ich. Und dennoch habe ich Angst, dass er mich belügt. Dass er mich einfach nur beruhigen will. Oder schlimmer noch: mir jetzt und hier sagt, dass er das nicht kann. Ich wüsste nicht, was ich dann machen sollte.
Mir kommt es vor wie eine Ewigkeit, als er mir dann endlich eine Antwort gibt. „Ava, mir-mir geht es gut, glaub mir." „Anton lüg mich gefälligst nicht an!",schreie ich wütend. In diesem Moment ist es mir egal, dass wir erst kurz vor acht haben. Mir ist es egal, dass wir den Bus verpassen werden. Es geht hier um Anton. Den Kerl, den ich schon mein ganzes Leben kenne. Um Anton, der ein Problem hat. Und ich werde hier erst weggehen, wenn Anton endlich mit mir geredet hat. Er sieht aus wie ein verletztes Reh. Auch wenn ich ganz genau weiß, dass er versucht, seine Gefühle zu verbergen. Aber das funktioniert bei mir nicht mehr. Dafür kenne ich ihn zu gut.
„Was willst du bitte hören?! Soll ich dich jetzt mit all meinen scheiß Gedanken bequatschen?!",erwidert er. Ich bin überrascht über seine plötzliche Wut. Aber ich zwinge mich, keine Reaktion zu zeigen. „Ja verdammt, genau das ist es was ich will!" Er richtet sich urplötzlich zu seiner vollen Größe auf. Plötzlich sieht er nicht mehr so jung aus. Plötzlich sieht er aus, wie ein Mann. „Nein Ava das werde ich nicht!",sagt er mit fester Stimme, „Es sind meine beschissenen Gedanken! Und wie du schon gesagt hast, du hast schon alle Hände voll mit Ryan zu tun!" Entgeistert sehe ich ihn an. „So habe ich das überhaupt nicht gemeint! Drehst du jetzt komplett durch?" Er zieht wieder die Augenbrauen hoch. „Ja genau, ich werde jetzt genauso irre wie Evelyn! Du weißt schon, weil alle depressiven sind ja irre!" „Anton so habe ich das nie gemeint! Hör auf mir die Worte im Mund umzudrehen!" „Genauso hat es sich aber angehört! Ich sag dir jetzt mal was Ava, manchmal sollte man auch darüber nachdenken, was man sagt!" Entsetzt und wütend sehe ich ihn an. „Verdammt Anton ich will dir nur helfen! Aber wenn du meine Hilfe nicht brauchst, kann ich dich gerne auch mit deinen Problemen alleine lassen, bis du irgendwann vor Erschöpfung umkommst!" Er schnaubt verachtend. „Wie mein Vater?! Weißt Ava du kannst mich mal!" Mit offenem Mund starre ich ihm hinterher. Sehe zu, wie er den Weg ohne mich fortsetzt. Was fällt ihm eigentlich ein mich so anzugehen! Ich fasse es nicht. Wie konnte er meine Hilfe so fehlinterpretieren.
„Nein! Nein Anton! Du redest jetzt gefälligst mit mir!", brülle ich ihm hinter her. Er hebt seine rechte Hand und zeigt mir den Mittelfinger.

In der Schule ignoriert er mich komplett. Und zum ersten Mal wird mir bewusst, dass ich außer die zwei keine anderen Freunde habe. Ich habe immer gedacht, ich brauche niemanden, außer die Zwei. Noch nie ist es dazu gekommen, dass alle beide plötzlich nicht mehr da sind. Und so stehe ich völlig alleine da. In der Pause. In den Kursen. In den Freistunden. Da ist niemand mit dem ich reden könnte. In der zweiten Pause beschließe ich dann May anzurufen. Sie ist wahrscheinlich die Einzige, der ich die Situation nicht erst einmal ausführlich erklären muss.
„Ava?" „Ja, ich bin's." „Hey, alles gut? Wie war der Film?" Anton hat ihr also nicht erzählt was passiert ist. Also werde ich das auch nicht. „Hier hör zu. Ich hab mit Anton geredet." Ausnahmsweise bin ich einmal froh, dass May schnell und ohne zu fragen das Thema wechseln kann. „Und? Was sagt er?" „Er streitet ab depressiv zu sei-" „Depressiv?!",fragt sie erschrocken. Ach so richtig, ich hatte ihr meine Vermutung nicht erzählt. „Jedenfalls denke ich, dass ich mir es etwas mit ihm verscherzt habe." Dann bricht bei mir der Damm und ich fange an zu schluchzen. Ich hasse es mit den Jungs zu streiten. „Ach Ava, Süße, mach dich nicht verrückt! Er bekommt sich schon wieder ein." Ich hätte fast laut aufgelacht. May kennt ihren Bruder einfach nicht! „Wo bist du? Dann komme ich zu dir." „Nein, schon gut. Ich-ich komme schon klar." Eins muss man May lassen. Sie ist da, wenn man sie braucht. „Ah da bist du, ich seh dich." Dann hat sie aufgelegt. Einen Augenblick später steht sie vor mir und nimmt mich in den Arm. Über ihre Schulter hinweg sehe ich Anton, wie er uns argwöhnisch anschaut. May streicht mir über den Rücken. Dann lässt sie mich los und sieht mich aus großen braunen Augen an. „Also was genau ist da zwischen euch beiden vorgefallen?"

Weil wir Freunde sindWhere stories live. Discover now