Ryan

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19:18

„Evelyn, bist du Zuhause?", rufe ich in die kleine Wohnung. „Ist einkaufen",antwortet mir Elias. Als ich meinen Schlüssel auf den Tisch schmeiße kommt Tilo mit ausgebreiteten Armen auf mich zugelaufen. „Ry-Ry",sagt er vergnügt. Matt lächelnd nehme ich meinen kleinsten Bruder in den Arm. Ry-Ry ist sein Spitzname für mich. Er hat sich wohl gedacht, dass mein Name zu lang ist und hat ihn einfach genauso lang gelassen nur umgeändert. Tilo hat dünne Locken, die ihm wirr vom Kopf stehen. Ich weiß nicht, ob er jemals beim Friseur war. Stolz öffnet er seinen Mund und deutet mit seinem Zeigefinger auf einen kommenden Zahn. „Zahn." „Ganz genau. Jetzt musst du deine Zähne immer gut putzen, damit sie nicht ausfallen." „Weil die Zähne werden sonst schlecht und schwarz!",stimmt Elias mit ein und ich muss grinsen. Der fünfjährige ist manchmal intelligenter als seine Mutter. „Und Mom ist einkaufen und hat euch alleine gelassen?", frage ich Elias. „Ja, sie meinte, wir sollen nicht in die Küche gehen. Aber Tilo hat geweint, also habe ich ihm etwas Brei machen wollen. Mom hatte den Schlüssel da oben auf's Regal gelegt, aber ich hab einen Stuhl genommen und ihn wieder runter geholt." Mir krampft sich das Herz zusammen, als ich höre, dass Evelyn die zwei Jungs, einen fünf- und einen zweijährigen Zuhause alleine lässt. Sie ist dreifache Mutter, sie sollte langsam wissen, wie man mit einem Kind umgeht. Aber ich schlucke die Sorge runter und zwinge mich zu einem Lächeln. Elias soll nicht mitbekommen, wie sehr mich das Verhalten von Evelyn stört.
„Meinst du Mom wird sauer sein?" „Nein, keine Sorge. Du hast alles richtig gemacht." Dass sie bei mir einige Fehler gemacht hat ist selbstverständlich. Sie war nur ein Jahr älter als ich es jetzt bin, als sie mich zur Welt brachte. Wenn ich jetzt Vater werden würde, wüsste ich nicht was ich zu tun hätte. Ich wäre hoffnungslos überfordert. Genauso muss es ihr auch gegangen sein. Aber jetzt ist sie fünfunddreißig, da kann man doch wenigstens ein bisschen Mitdenken erwarten, oder ist das zu viel verlangt?
„Hat es denn geklappt mit dem Brei machen?" „Ja war ganz einfach." Elias grinst. Er hat bereits einen Zahn wieder verloren. Was mit fünf Jahren ziemlich früh ist. Aber er wurde auch dieses Jahr schon eingeschult. Er wird in ein paar Woche sechs Jahre alt und ist für sein Alter ziemlich raffiniert. Seine blaue Augen strahlen mich an. „Sehr gut. Und was habt ihr den Tag über gemacht?" „Also zuerst war ich in der Schule. Danach hat Mom mich abgeholt und wir haben gemeinsam Tilo abgeholt. Und danach sind wir zum Bäcker gegangen und haben was gegessen." Ich schiebe ihn ins Kinderzimmer der zwei. Überall liegen irgendwelche Spielsachen herum und die schmutzige Wand hat einige schöne Verzierungen bekommen. Wenn das der Vermieter wüsste. Elias setzt sich bereitwillig auf sein Bett und berichtet mit ausgiebig seinen Tag. Vom Toilettengang nach dem Bäcker bis hin zum Brei machen. Ich hebe in der Zwischenzeit Tilo vom Boden auf und setze ihn in sein Bett. Er tatscht mir im Gesicht herum und lacht. Während Elias weiterhin erzählt. Ich habe das Gefühl, dass er froh ist, dass ihm endlich mal jemand zuhört. Evelyn macht es sicherlich nicht. Tilo lacht während er an meinen Haaren zieht und ich das Gesicht verziehe.
„Und wie war dein Tag?", fragt mich Elias dann neugierig. Ich kitzle gerade Tilo, das sich lachend windet. „Jetzt wo ich wieder bei euch zwei Rackern bin sehr gut." Ich lächle Elias an, der sich nun an mich kuschelt. „Ich hab dich auch lieb, Ryan." Mir kommen fast die Tränen. Mir ist klar, dass Geschwister sich lieb haben. Meistens zumindest. Bei Anton und May bin ich mir da teilweise nicht so sicher. Aber Elias sieht in mir wahrscheinlich nicht nur den großen Bruder, sondern auch einen Vater. Und auf einer Seite freut es mich, dass Elias so zu mir aufsieht. Aber auf der anderen Seite schmerzt es mich. Es ist nicht meine Aufgabe sein Vater zu sein. Und ich bin auch nicht sein Vater. Ich bin kein Vaterersatz. Ich möchte nicht, dass Elias sich da falsche Hoffnungen macht. Dass er denkt, ich würde die Stelle als Vater antreten. Natürlich tue ich das schon ziemlich häufig. Aber ich habe schließlich auch noch ein Leben. Und ich weiß, dass mich das irgendwann kaputt machen wird, wenn das so weiter geht. Evelyn's letzter Lover, Tilo und Elias Vater ist vor einem Jahr abgehauen. Seitdem geht es nur noch mehr den Bach herunter. Wir haben kaum noch Geld, was daran liegt, dass Evelyn nicht arbeiten geht und höchstens mal auf dem Strich steht. Tilo hat bereits seinen Kindergartenplatz verloren, weil meine Mom nicht zahlen konnte.
Ich drücke Elias an mich. Ich höre wie die Tür aufgeschlossen wird und jemand eintritt. Elias drückt sich von mir ab und rennt in den Flur. „Mom!",freudig breitet er die Arme aus. Tilo reckt den Kopf in die Höhe. Mit großen Augen sieht er Evelyn an, die nun in der Tür zum Kinderzimmer steht.
„Hallo, Ryan." Ich antworte nicht. Evelyn beugt sich zu Elias und sagt ihm:„ Kannst du deinen Bruder Bett fertig machen? Ich würde gerne mit Ryan reden." Elias nickt, diesmal nicht ganz so erfreut. Verwirrt sieht er mich an. Aufmunternd lächle ich ihn an. Ich versuche ihn mit meinem Blick zu beruhigen. Alles gut, Kleiner. Soll mein Blick sagen. Er klettert zu Tilo auf's Bett und zieht seine Schlafsachen unter der Decke hervor. Ich verlasse das Kinderzimmer mit einem Schulterblick zurück. Dann gehe ich mit meiner Mutter in die Küche. Sie schließt die Tür hinter mir.
„Du hast Kontakt zu ihm?!",fährt sie mich an. „Du lässt die Jungs allein hier?!",fauche ich zurück.
„Ich war einkaufen!" „Einkaufen! Das sehe ich. Wo ist die Tüte?! Ich glaube du spinnst, du kannst doch keinen fünfjährigen mit einen zweijährigen alleine lassen! Schon gar nicht hier!"
„Wo warst du denn?! Ich hab' geglaubt du würdest dich um sie kümmern. Ich dachte du würdest nach der Schule gleich herkommen! Aber nein, der feine Herr nimmt lieber Kontakt zu seinem alten Herrn auf, der ihn sowieso nicht will!", schreit sie. Mein Herz setzt einen Moment aus. Ich kämpfe gegen die Tränen an. Das hat gesessen! Verletzt weiche ich einen Schritt zurück. „Du brauchst mich nicht so anschauen! War dir nicht klar gewesen, dass er dich nicht will?! Was meinst du wohl, warum er sich damals verpisst hat?!" Verletzt sehe ich sie an. Natürlich weiß ich das! Und dennoch tut es so scheiße weh! Wie ein Messerstich direkt ins Herz. „Hat er einen Schritt auf dich zu gemacht? Oder warst du es?" Ich antworte ihr nicht. Sie kennt die Antwort bereits. Stattdessen starre ich den Boden an. Kämpfe gegen den Druck hinter meinen Augen an. „Ryan?!", fragt sie scharf nach. Warum muss sie noch mehr Salz in die Wunde schütten? Tut ihr das gut, mich leiden zu sehen? „Warst du es oder war er es?" „Ich war es...",flüstere ich leise.
„Was hast du dir dabei gedacht?! Er ist ein verlogener Dreckskerl und ein feiges Schwein dazu!" „Er ist mein Vater verdammt noch mal!", platzt es aus mir heraus. Auch wenn ich größer als Evelyn bin, fühle ich mich dennoch wie ein kleines hilfloses Kind. „Und ich bin deine Mutter! Und wenn ich dir sage, dass du keinen Kontakt zu ihm aufbauen sollst, dann meine ich das auch so und dann hast du keinen Kontakt aufzubauen!" Ich kämpfen mit den Tränen. „Ich wollte doch nur wissen wie er ist. Ob er wirklich so ist, wie du sagst",sage ich leise. Sie starrt mich wütend an. „Halte dich von ihm fern, Ryan! Sonst fliegst du hier raus!" Nun bricht der Damm. Mir fließen Tränen über die Wangen. Aber meine Mutter scheint das recht wenig zu kümmern, sie dreht sich um und lässt mich alleine in der Küche zurück. Schluchzend lasse ich mich gegen die Wand fallen und rutsche an ihr hinab. Ich fühle mich alleine. Mein Herz fühlt sich an, als würde es jeden Moment zerquetscht werden. Mein Brustkorb bebt.
Alles was ich wollte war meinen Vater kennen zu lernen. Aber erst werde ich von ihm abgewiesen und dann von meiner Mutter. Ich will gar nicht wissen, wie sie Wind davon bekommen hat. Es reicht mir, dass sie es weiß.
Ich ziehe meine Beine an mich und legen den Kopf auf meinen Knien ab. Die Arme schützend um meinen Kopf gelegt. Es war mir bewusst gewesen und dennoch tut es so scheiße weh.
Plötzlich legt sich eine kleine Hand auf meinen Rücken. Dann schlingen seine kurzen Arme sich um mich. Sie versuchen mich zu umarmen und zu trösten. Erschrocken sehe ich auf. Elias sieht mich besorgt aus seinen blauen Augen an. Schnell wische ich mir meine Tränen weg und versuche mich an einem Lächeln. Vergeblich. Es muss mehr wie eine Fratze aussehen. „Elias...",murmle ich heiser. „Du solltest ins Bett gehen." „Weißt du Ryan, mein Pa ist auch weg. Ist nicht so schlimm. Gemeinsam stehen wir das durch, ja?", hoffnungsvoll sieht er mich an. Aus seinen großen runden blauen Augen. Ich muss schlucken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es für Elias einfach ist. Er hat fünf Jahre lang seinen Vater um die Ohren gehabt bis dem irgendwann eingefallen ist, dass ihm das zu viel Verantwortung ist. Elias sagt das, damit ich mich besser fühle. Das weiß ich. Aber es verletzt mich nur noch mehr. Wie kann er sowas für mich tun. Er ist verdammt noch mal fünf Jahre alt. Ich sollte ihn aufmuntern. Ich sollte dafür sorgen, dass ihm das Fehlen seines Vaters nicht zu schwer fällt. Und dennoch sitze ich hier. Heulend. Während er mich versucht zu trösten.
„Ja...gemeinsam schaffen wir das...",flüstere ich. Ich lege meine Hand auf seine und drücke sie.

Wir sitzen bei solange da, bis Elias an meiner Seite eingeschlafen ist. Seine kleine Hand umklammert locker meine Hand, als habe er Angst ich würde ohne sie zusammenbrechen. Traurig sehe ich ihn an. Elias ist so viel stärker als ich. Wie er versucht hat mich mit seinen kleinem Körper vor der Welt zu beschützen. Leise stehe ich auf und nehme ihn auf den Arm. Sein Kopf rollt an meine Brust. Für fünf Jahre ist er ziemlich klein und leicht. Ich trage ihn in sein Zimmer zu Tilo, der bereits friedlich schlummert. Nachdem ich Elias hingelegt und zugedeckt habe sehe ich ihn einen Moment an. Er ist so klein. Sein Gesicht sieht friedlich aus. Ein kleines Lächeln umspielt seine Mundwinkel, sodass auch ich automatisch lächeln muss. Als ich es an der Haustür Hämmern höre überlasse ich Elias seinem Bett und schließe, nachdem ich das Zimmer verlassen habe die Tür. Evelyn steht in Unterwäsche vor der Tür und flirrtet mit einem Mann. Er ist höchstens drei Jahre älter als ich. Mir kommt fast mein Essen wieder hoch. Wie angewurzelt bleibe ich vor der Tür stehen. Es ist mir nichts Neues, dass sie so Geld verdient. Aber bisher ist es noch nie in unserer Wohnung passiert. Wie verzweifelt muss sie sein? Der Kerl wirft einen Blick über die Schulter meiner Mutter. Er kann höchstens fünfundzwanzig sein. „Ich dachte wir wäre ungestört?",brummt er. Evelyn dreht sich um. „Keine Sorge, er wollte gerade gehen!" Auffordert sieht sie mich an. Das kann sie nicht wirklich von mir verlangen! Ich werde Tilo und Elias nicht mit ihnen alleine lassen! Das kann sie vergessen! Als ich mich nicht rühre kommt meine Mutter auf mich zu. Sie hebt ihren Arm und ehe ich begreife, was sie vorhat brennt meine Wange. „Ich habe gesagt, du sollst verschwinden!" Mit großen Augen sehe ich sie an. Mein Hirn scheint sich ausgeschaltet zu haben. Sie drückt mir eine Jacke in die Hand und deutet dann auf die Tür. „Geh jetzt, Ryan!" Als ich mich immer noch nicht rühre schupst sie mich und schreit mich an ich würde alles kaputt machen. Stolpernd laufe ich aus der Tür. Die hinter mir zugeschlagen wird. Wie versteinert starre ich sie an. Das brennen auf meiner Wang holt mich zurück in die Wirklichkeit. Mit zittriger Hand fasse ich die Stelle an, wo sie mich geschlagen hat. Sie hat mich geschlagen! Die ersten Tränen laufen mir über die Wange. Sie hätte mir genauso gut sagen können, dass ich ein Fehler war und sie sich gewünscht hätte mich nie geboren zu haben. Es würde genauso weh tun. Mit jeder Sekunde in der ich einfach nur da stehe begreife ich mehr, was gerade passiert ist. Wut steigt in mir auf. Ich erwache aus meiner Starre und mache einen Satz auf die Tür zu. Hämmere dagegen. „Lass mich rein!", schreie ich. „Das kannst du Elias und Tilo nicht antun!" Ich versuche sogar die Tür einzutreten. Und so heruntergekommen dieses Haus auch ist, die Tür hält. Ich schmeiße mich gegen die Tür. Nichts tut sich. Verletzt wische ich mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Mein ganzer Körper bebt. Irgendwann gebe ich es auf und kauere mich an der gegenüberliegenden Wand zusammen. Ich fühle mich wie ein Stück Dreck. Wie ein Stück Dreck, dass keiner mehr will.

Weil wir Freunde sindDonde viven las historias. Descúbrelo ahora