Ryan

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23:29

Ich sehe Ava hinter her, wie sie das Zimmer verlässt. Als sie weg ist und ich mir sicher bin alleine zu sein vergrabe ich das Gesicht in meinen Händen. Elias! Gott, wie kann ich ihm das nur antun? Tilo ist wahrscheinlich zu jung, um sich später daran erinnern zu können. Aber Elias wird das nicht vergessen! Er wird nicht vergessen, in was für schrecklichen Bedienungen er aufgewachsen ist. Und er wird auch nicht vergessen, dass ich ihn im Stich gelassen habe. Hätte ich doch nur meinen verdammten Mund aufgemacht, als der Polizist da war! Ich kann den anderen keinen Vorwurf machen. Das ist meine Sache und das wissen sie. Ich muss entscheiden, ob ich Elias und Tilo auch noch ihr letztes Elternteil wegnehmen kann. Und das kann ich nicht! Ich will nicht dafür verantwortlich sein, dass Tilo ohne seine leiblichen Eltern aufwachsen wird. Ich will nicht der jenige sein, den Elias beschimpft, wenn er erfährt und realisiert was ich getan habe. Er würde mich hasse! Und, so egoistisch das klingen mag, dass kann ich nicht. Ich kann nicht ertragen, dass mich Elias hassen wird. Er ist mein Bruder. Und vielleicht auch etwas mehr. Vielleicht habe ich wirklich sowas wie die Vaterrolle übernommen. Aber wollen Eltern nicht immer nur das beste für ihre Kinder? Ich muss bei dem Gedanken schnauben. Ganz genau! So wie deine Mutter, oder was? Ich bin genau wie sie! Ich denke nur an mich. Ich bin zu egoistisch um Elias und Tilo eine schönere Zukunft zu gönnen. Aus Angst sie zu verlieren. Aus Angst sie könnten mich hassen. Aus Angst sie würden mich abstoßen.
Ich schmecke salzige Tränen in meinem Mund. Meine Augen brennen, auch wenn ich sie fest zusammenkneife. Meine Knöchel an den Händen schmerzen. Meine linke Seite schmerzt, sobald ich einatme und schmerzt wenn ich ausatme. Ich sitze auf Ava's Bett, an der Bettkante und würde am liebsten um mich schlagen. Aber das kann ich nicht, weil die Sachen in dem Zimmer nicht mir gehören. Plötzlich kommt mir der Raum viel zu klein vor. Als würden die Wände auf mich zukommen. Immer näher und näher. Ohne es wirklich realisiert zu haben, bin ich vom Bett aufgesprungen, habe meine Jacke geschnappt und bin aus der Tür gerannt. Ich höre Ava noch verwundert meinen Namen rufen. Aber ihre Stimme ist so weit hinten, dass ich sie kaum wahrnehme. Gott, ich hasse mich! Ich hasse mich und mein verdammtes Leben! Mit schnellen Schritten laufe ich das Treppenhaus hinunter. Ava wohnt im zweiten Stock. Das Treppenhaus ist, im Vergleich zu dem in unserem Haus, immer sauber und super gepflegt. Aber auch dies nehme ich kaum wahr. Es ist als würde die ganze Welt plötzlich vor meinem Auge verschwimmen. Als würden alle Geräusche urplötzlich nicht mehr existieren und meine Gedanken deshalb um so lauter schreien. Elias! Tilo! Mein Vater! Meine Mutter! Ich sollte wütend sein. Ich sollte traurig sein. Dabei fühle ich mich einfach nur schuldig und verloren. Verloren in meinen Gedanken.
„Ryan!",schreit jemand. Aber ich überhöre es einfach. Ich brauche Zeit für mich. Zeit mich zu sammeln. „Ryan! Bitte warte! Ich will dir doch nur helfen!", Ava's Stimme kämpft sich durch mein Unterbewusstsein.
Draußen schnappe ich nach Luft und bleibe stehen. Stütze mich auf meinen Knien ab. Mein Atem geht schnell. „Bitte, lass mich dir helfen." „Ava, du kannst mir nicht helfen! Niemand kann das!",brülle ich. Ich habe mich nicht mehr unter Kontrolle. Sie sieht mich entsetzt an. So sehr, wie gerade eben, habe ich sie noch nie angefahren. Automatisch überkommt mich ein Schuldgefühl und ich wende ihr den Rücken zu. Sie soll nicht sehe, wie ich weine. Schwächling!
„Lass mich bitte-bitte einfach in Ruhe, okay?",sage ich dann leise.
Eine lange Zeit bekomme ich keine Antwort von ihr, so dass ich davon ausgegangen bin, dass sie gegangen ist. „Ryan, es ist nicht gut es in dich hineinzufressen", sagt sie mütterlich, „du weißt, dass du mit mir jeder Zeit reden kannst, oder?"
Ich nicke nur. Sie soll endlich gehen! Versteh doch einfach, dass ich Zeit für mich brauche! Ein Teil von mir würde sie am liebsten solange anschreien bis sie endlich geht. Ein anderer hält mich zurück. Wir sind seit klein auf befreundet. Sie hat immer zu mir gehalten, dass wäre ihr gegenüber nicht fair.
„Ich höre dir zu, wenn du mir etwas sagen möchtest..." „Man, Ava, du weißt doch längst alles! Lass-lass mir doch bitte etwas Zeit für mich!", sage ich halb vorwerfend halb weinend.
Sie ist darüber gekränkt, dass wir ihr zutrauen, dass sie uns in einen Liebesfilm mitnimmt. Sie wirft uns vor wir müssten es besser wissen. Aber selbst versteht sie anscheinend nicht, wann wir unsere Ruhe brauchen! Wann wir alleine sein wollen!
„Ich...ich warte drinnen.Wenn es dir besser geht, dann komm bitte rauf, ja?" Ich hätte fast geschnaubt. Wenn es danach geht würde ich gar nicht mehr reinkommen! Dann würde ich wahrscheinlich für immer von diesem Haus stehen und mich selbst bemitleiden. Aber ich unterdrücke das Schnauben und warte, bis ich sicher bin, dass Ava weg ist. Dann lasse ich
mich auf der kleinen Mauer, die das Grundstück abgrenzt, nieder. Meine Hände zittern. Warum zittere ich?
Ich lege meine linke Hand auf mein rechtes Schulterblatt. Dort hat Elias mich berührt, als er mich versucht hat aufzumuntern. Elias! Ich weiß, dass er das alles mitbekommt. Ich weiß, dass er so tut, als würde er es nicht. Er fragt mich nicht danach, auch wenn er schon oft genug einen Streit zwischen Evelyn und mir mitbekommen hat. Aber er weiß immer wie er mich ablenkt. Er erzählt mir wie sein Tag war. Er lacht. Er versucht mich auf irgendeine Weise zu beschäftigen, auf seine ganz eigene Art und Weise.
Es ist, als würde mich genau diese Stelle, so bald ich sie nur berühre, aufmuntern. Als würde sie Elias berühren. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht und atme tief ein und aus. Und in diesem Moment weiß ich, wem meine größte Wut gilt. Marco. Tilo und Elias Vater! Wäre er nicht gegangen, wäre es zwar noch immer nicht gut, aber es wäre besser als jetzt! Wäre er nicht gegangen, wäre Evelyn nicht wieder eine Prostituierte geworden. Wäre er nicht gegangen, hätten Elias und Tilo, jemand der sie, mehr oder weniger, vor den Leuten in unserem Haus beschützt. Und was am wichtigsten ist: sie hätte einen Vater und würden sich nicht genauso verlassen fühlen wie ich. Und wer weiß, vielleicht wäre er auch für mich irgendwann wie ein Vater geworden.
Ich spüre, wie mit jeder Sekunde meine Wut größer auf diesen Mann wird. Ich begreife, was er alles mit seinem Verlassen kaputt gemacht hat. Früher dachte ich, es wäre eine Erleichterung, sobald er weg sein würde. Aber das war es nicht. Lieber würde ich weiter seine Schläge erdulden, als Elias und Tilo ohne Vater zu sehen. Als sie unglücklich zu sehen. Lieber würde ich weiterhin von ihm gesagt bekommen, was für ein Stück Dreck ich doch bin, als auch noch meine Mutter komplett zu verlieren. Lieber würde ich mich mit ihm prügeln, als dass er unsere Familie den Bach runtergehen lässt.
So langsam frage ich mich, ob er sich je für seine Kinder interessiert hat. Oder ob er genauso ignorant wie mein Vater ist. Wie konnte er sie einfach alleine lassen? Bei einer depressiven Prostituierten?
Mit jeder Sekunde, die verstreicht habe ich das Bedürfnis, ihn ausfindig zu machen und ihn mir vor zuknöpfen. Ihn meine Wut spüren zulassen. Ich will mich dafür rächen, für das was er Elias angetan hat. Für das was er Tilo angetan hat. Für das was er unsere Familie angetan hat. Für all die Schläge und Tritte, die ich einstecken musste, als ich noch schwächer war.
Ich erinnere mich noch genau an einen Tag. Es war der wahrscheinlich schlimmste meines Lebens. Elias war ungefähr Tilo's Alter. Er hat mit Bauklötzen gespielt. Dabei hatte er einen Klotz weg geworfen. Ich glaube sein Turm war eingestürzt. Er hatte den Bauklotz einfach weggeworfen und dabei den aufgeklappten Laptop von Marco voll erwischt. Das Ding war danach im Eimer. Ich frage mich bis heute, wie der kleine Elias so viel Kraft aufwenden konnte. Marco war stinkwütend. Mit erhobener Hand ging er auf Elias zu, packte ihn grob bei den Armen und schrie ihn an. Elias hatte geweint und geschrien. Marco hatte fast seinen Arm zerdrückt. Er tat ihm unglaublich weh! Aber das war ihm egal. Ich war dreizehn gewesen. Noch schmächtig und klein. Früher kam es mir vor, als wäre Marco doppelt so groß wie ich. Und dennoch hatte ich ihn angeschrien und nach ihm getreten und ihn geschlagen. Habe immer wieder gesagt, dass es Elias weh tun würde. Marco ließ Elias los und verpasste mir einen Schlag. So heftig, dass ich vor lauter Wucht den Kopf drehte und zu Boden ging. Ich weiß noch ganz genau, wie höllisch weh es getan hat. Wie scheiße sehr es gebrannt hatte. Aber Marco war so in Rage, ihn hatte mein Schrei nicht im geringsten von irgendetwas abgehalten. Er packte mich beim Kragen und zog mich auf die Beine. Er brüllte. War völlig außer sich.
Ich konnte nach diesem Tag zwei Wochen nicht in die Schule gehen. Marco hatte mich in mein Zimmer eingesperrt und gesagt, dass ich erst wieder rauskommen würde, wenn ich Manieren habe. Wenn ich wüsste wie man Respekt gegenüber anderen aufbrachte. Ich weiß noch ganz genau, dass ich mich nicht traute gegen die Tür zu hämmern, aus Angst er würde hereinstürmen und wieder zu schlagen. Zu dem Zeitpunkt war Evelyn etwas besser drauf. Sie hatte mich sogar versorgt. Hatte mir etwas zum kühlen gegeben. Aber sie hatte nichts daran geändert, dass er es immer wieder tat.
Seit diesem Tag habe ich mir nicht sehnlicher gewünscht, als dass er einfach verschwindet. Und das tat er, vor einem Jahr. Nachdem er gemerkt hatte, dass ich größer geworden war und auch stärker. Und nachdem er merkte, dass seine Kinder mehr Arbeit machen, als er dachte. Ein Wunder, dass er es überhaupt so lange ausgehalten hat.
Ich wische mir die restlichen Tränen weg und drücken den Rücken durch. Mein Blick wandert zum Himmel. Ich weiß nicht wieso, aber ich liebe Regen. Und genau in diesem Moment beginnt es zu regnen. Na, wenn das mal kein Zeichen ist!

Weil wir Freunde sindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt