Prolog

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,,Ich komme morgen unbedingt wieder. Zur gleichen Uhrzeit. Versprochen." Schnell renne ich durch die eisige Nacht, die mir die Eingeweide zufriert. Meine Zähne klappern mit anderen Zähnen, aus anderen Mündern um die Wette und ich falle nicht auf, zwischen der Menschenmassen, die sich in der Stadt auch Nachts bildet. Kein Wunder, denn ich bin da unterwegs, wo die Nacht erst mal anfängt. Nun wird getanzt, gefeiert und die Sau rausgelassen, wie man so sagen würde.

Ich entferne mich diesem Getümmel und recke mein Gesicht in die Höhe. Meine Haare öffnen sich wie von alleine aus dem festen Strang, den ich mir jeden Abend hinter der Bar machen muss. Lang sind sie nicht, aber weich wie Seide. Meine Haut saugt die kalte Luft auf und zufrieden verziehe ich meine Mundwinkel zu einem Lächeln. Ein Gedanke kommt mir in den Sinn und dieser beglückt mich bis ins Innerste.

Morgen.

Morgen beginnt mein Studium wieder. Morgen kann ich wieder das machen, was ich gerne mache... etwas lernen. Ohne ein Ziel im Leben, fühle ich mich dumpf, nicht vollständig ausgeschöpft. Die Bar, in der ich einem Freund einen Gefallen tue, ist nicht mein Traum und ich werde von dort weggehen, sobald ich mein Studium beendet habe. Bis dahin aber, muss ich noch eine Menge lernen.

Der Weg bis zu meiner WG ist nicht weit. Ein paar Kilometer. Zwei, höchstens. Dieser Weg ist ein Spalt zwischen meinem Leben, dass mich zu meinem Ziel führt und dem Leben, das mich erwartet, wenn ich versage. Ich will Menschen helfen und nicht jeden Tag zuschauen, wie sie sich besaufen, an ihrer Kotze ersticken und mit Nichtwissen aus einem Tiefschlaf erwachen. Ich will durch die Welt reisen und dort helfen, wo ich kann. Ich will dort helfen, wo es schlechter zugeht, als hier. Ich will dort helfen, wo Menschen Tag für Tag um ihr Leben kämpfen.

Der kalte Luftzug warnt mich... ich sollte meine Jacke schließen. Wenn ich eins nicht werden will, dann ist das krank. Eine Erkältung kann ich mir nicht leisten. Nicht jetzt, wo die Uni wieder anfängt. Nein.

Gerade öffne ich meine Augen und knalle an eine Person. Erschrocken sehe ich in tiefschwarze Augen, die mich verärgert anschauen. ,,Pass auf, wo du hinläufst!", greift er mich lauthals an. Ich stehe wie angewurzelt da und sehe ihn mit großen Augen an. Er ist ganz in Schwarz gehüllt und natürlich kann es auch nur so wirken, weil es schon spät ist. Der Mond zeigt mir nicht alles. Dieser Typ sieht mich sauer an und streift seine Kapuze von seinem Kopf. Seine dunklen Haare kommen zum Vorschein und seine Hand streicht wie von selber drüber. ,,Hast du deine Stimme verloren?", fragt er mich laut und ich räuspere mich. Oh Gott, was soll ich sagen? Ich war zu sehr damit beschäftigt, über die Uni morgen nachzudenken? Nein. Das kann ich nicht machen. Er wird mich für eine Streberin halten. Ach egal, Lina! Du kennst den nicht. Es ist egal was er denkt.

,,Ähm, es...t - tut mir leid", krächze ich. Mehr bekomme ich nicht aus meinem Mund. Der Typ guckt mich nur kopfschüttelnd an und geht an mir vorbei. Mein Herz klopft wie verrückt, alleine wegen der Angst, er könnte mich jetzt richtig anpöbeln, nur weil ich nicht aufgepasst habe. Er war groß, gut gebaut und hatte ein strenges Gesicht. Ähm, hat. Er lebt ja noch, denke ich mal. Hoffe ich! Ich will nicht, dass er wegen meinen Gedanken nicht mehr da ist. Oh man, ich kenne den nicht und mache mir Gedanken über ihn. Machen das viele oder nur ich? Das passiert mir so oft, dass ich über dumme Sachen nachdenke.

Aber jetzt mal schnell in die Wohnung. Sofort geht das Licht auch an und Amy kommt in den Flur gestürmt. ,,Das waren fünf Minuten später als sonst, Junge Dame", rügt sie mich lachend und ich muss auch lächeln.

,,Ich wurde aufgehalten", erkläre ich leise und ziehe meine Schuhe aus. Unsere WG ist nicht groß, aber sie ist wunderschön. Naja, größer als manch andere Wohnungen. Amys Papa bezahlt uns das. Amy ist nämlich aus einer vermögenden Familie. Meine ist nicht arm, aber ich gehöre zu den normalen Menschen die studieren. Ich lebe sparend, während sie das Geld raushaut. ,,Wieso bist du zu Hause? Ich dachte, du willst mit Theo was trinken gehen", erinnere ich mich und konfrontiere sie damit. Sie winkt aber ab und ich folge ihr in die Küche, wo sie Gurken schneidet und sich eine Scheibe in den Mund schiebt.

,,Morgen fängt doch die Uni wieder an", kommt von ihr und ich nicke anerkennend.

,,Du nimmst sie ernst?", frage ich verblüfft, weil Amy die unorganisierteste, chaotischste, bequemste Person ist, die ich kenne. Sie würde niemals einen Finger für irgendwas krumm machen. Das ist nicht ihre Art. Also erfüllt sie meine Erwartungen, indem sie lacht.

,,Nein, Theo wollte schon nach Hause. Er muss ja unbedingt noch was vorbereiten. Wofür frage ich mich da nur", beschwert sie sich mit einer schwungvollen Geste, die mich zum Ausweichen zwingt, weil sie ihre Arme herumwirbelt. Ich lache und sie sieht mich jetzt schmunzelnd an. ,,Aber sag mal du, wovon wurdest du denn aufgehalten?", fragt sie mich und zieht ihre Augenbraue hoch. Schon wieder ihre Gedanken. Sie glaubt immer, dass ich irgendwann einen Mann mitnehme. Auf diesen Tag wartet sie nur.

,,Ich habe jemanden angerempelt, also übersehen", antworte ich und schaue peinlich berührt auf den Schrank neben mir.

,,Wie alt, aussehen, groß oder klein? Erzähl! Sah er gut aus?" Ich sehe sie sprachlos an und schüttle meinen Kopf.

,,Nein, er war wütend auf mich. Lass das, Amy!", fordere ich unüberzeugend und renne hoch in mein Zimmer. Wir haben oben mein Zimmer und ein Bad und unten Amys Zimmer, ein Bad, das Wohnzimmer und eine Küche. So habe ich eigentlich meine Ruhe.

Eigentlich.

,,Lina, du kannst mich so nicht stehen lassen. Wütende Männer sind super sexy und wollen von Mauerblümchen wie dir bewundert werden. Also erzähl mir genau wie du ihn angerempelt hast, wie er dich angeschaut hat und und und", nervt sie mich weiterhin und ich lege mich mit dem Gesicht ins Kissen gedrückt. Amy legt sich daneben und ich muss nur einmal rauslugen und sehe ihr strahlendes Gesicht. Oh man, da kann ich nicht lange standhalten. ,,Okay, aber da war sowieso nichts", gebe ich nach und Amy sieht mich jetzt ernst an.

,,Bei dir, mein Schatz, kann es nie einfach Nichts sein."

I See You.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt