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„Fay?"

Das Wasser prasselte auf Fays Körper und spülte die Reste der Tränen von ihrem Gesicht. Das kühle Nass schien ihre Sinne gleichermaßen zu beruhigen und zu wecken und die fallenden Wassertropfen erinnerten sie an Regen. Wann hatte sie das letzte Mal das Sonnenlicht gesehen?

„Fay, bist du hier?" Tonjas Stimme holte sie in das Jetzt zurück.

Und weg war die Ruhe. Sie drehte das Wasser ab und wickelte sich ein Handtuch um. „Was gibt's?", sagte sie, als sie aus der hinteren Duschkabine trat.

Tonjas Augen waren noch immer gerötet. „Zieh dir etwas an, ich warte draußen." Ihr Ton war ungewohnt bestimmend, die Haltung einen Tick zu starr. Sie wich Fays Blick aus und verschwand in die Schlafsäle zurück.

Was hatte sie? Es war noch längst nicht Zeit zum Abendessen. Fay schüttelte sich und zog sich ihr übliches Shirt und Hose über. Nicht, dass sie früher Wert auf ihr Äußeres gelegt hätte, aber wenn man sich jeden Tag verschwitzt, dreckig und blutig sah, dann konnten das auch ein paar hübsche Klamotten nicht ungeschehen machen.

Sie schlüpfte zurück in den Schlafsaal, wo sie Tonja auf und ab wippend neben ihrem Bett fand. Tonja drückte ihr eine Jacke in die Hand und schaute sie aus großen Augen an. „Rein hypothetisch: Wenn ich dir sagen würde, dass ich einen Weg nach draußen kenne, was würdest du tun?"

Fay klappte den Mund auf und wieder zu. Hier war definitiv etwas im Busch. „Tonja, was soll das? Du weißt, dass wir hier nicht raus können." Und wenn sie an Ethan dachte auch nicht sollten. Ethan. Der Gedanke ließ die Tränen erneut aufwallen. Sie ballte die Hände.

„Du hast die Frage nicht beantwortet", sagte Tonja leise. Sie kaute auf ihrer Lippe herum und wartete.

Fay schluckte den aufkommenden Ärger hinunter und legte Tonja stattdessen die Hände auf die Schultern. Sie war so zerbrechlich. „Du weißt ganz genau, dass ich die erste wäre, die wissen wollen würde, wo dieser Weg ist. Tonja, es ist nicht böse gemeint, aber ich bin wirklich nicht in der Stimmung für Spielchen."

Tonja schüttelte den Kopf. Ein sanftes Lächeln hatte sich auf ihre Lippen gestohlen. „Nein, kein Spiel. Komm einfach mit", und mit diesen Worten nahm sie Fays Hand und zerrte sie aus dem Schlafraum.

Fay stolperte hinter Tonja her. Umso mehr sie sich den Kopf zermarterte, desto weniger machte Tonjas Verhalten Sinn. Ihr beider Freund war tot, und Tonja spielte Spielchen. Zumindest schliff sie Fay übermütig an irgendeinen Ort, der höchstwahrscheinlich nicht den Regeln entsprach. Fay wurde das Gefühl nicht los, dass sie drauf und dran waren, etwas sehr, sehr Dummes zu tun, das sie in gigantische Schwierigkeiten bringen würde. Der Gedanke gefiel ihr. Griffin und seine Klone von Wachen konnte sich ihre Regeln sonst wohin stecken.

„Rein da", war die einzige Warnung, die Tonja gab, als sie Fay in einen dunklen, staubigen Raum schubste. Im spärlichen Licht konnte man die Schemen von Regalen ausmachen, die über und über mit Büchern gefüllt waren.

Langsam ließ Fay ihre Finger über die Buchrücken streifen und spürte das kühle Leder und körnigen Staub unter ihren Fingern. „Ich wusste nicht, dass wir eine Bibliothek zur Verfügung haben", sagte sie leise. Sie war nie eine Leserin gewesen. Wie auch? Sie hatte ihre Zeit damit verbracht, am Leben zu bleiben, aber das gesammelte Wissen gab ihr das Gefühl etwas Großem nahe zu sein und erfüllte sie mit einer gewissen Ehrfurcht.

„Psst!", zischte Tonja. Im schwummrigen Licht, das durch den Spalt der Tür drang, sah Fay, wie sich ihre winzige Gestalt gegen die Wand drückte. Tonja winkte sie zu sich heran.

Fay wusste noch immer nicht, wer oder was von Tonja Besitz ergriffen hatte, aber sie tat wie geheißen und drückte sich in ähnlicher Manie an die Wand. Ein kurzer Blick auf ihren Tracker sagte ihr, dass es in einer halben Stunde nur so von Wachen wimmeln dürfte.

Spirits - Stadt im UntergrundWo Geschichten leben. Entdecke jetzt