#15

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Es vergingen Tage bis Ivy die kryptischen Worte ihres Vaters endlich entschlüsselte. „Die Türen jener, die nichts zu geben haben", war ziemlich gerade heraus – sie musste bei den Armen suchen, doch mit dem Rest konnte sie nichts anfangen. Für sie deutete alles auf das selbe und doch konnte sie keinen Reim aus dem Ganzen machen. Die ärmeren Viertel waren die äußeren Ringe. Bis zum neunten Ring war sie vorgedrungen und hatte nach dem Symbol der Münze gesucht oder teilweise sogar versucht Dinge damit zu bezahlen und dann entrüstet die Ware zurückgegeben, wenn sich jemand weigerte ihre Münze anzunehmen. Auch das hatte keinen Erfolg gehabt.

Es blieb noch der zehnte Ring und Ivys Gefühl sagte ihr, dass sie genau dort ihre Antworten finden würde, aber das Tor zwischen dem neunten und dem zehnten Ring war über einer instabilen Hängebrücke, die die Schlucht, die den neunten und zehnten Ring voneinander trennte, überspannte. Der andere Durchgang war streng bewacht und Ivy traute sich nicht recht durch, denn sie hatte mit ihrer vom Draußenschlafen zerlumpten Kleidung Angst nicht mehr zurück in die reicheren Viertel zu dürfen. Und wie sollte sie diese Nachricht an ihren Vater bringen?

Ivy suchte nach der berühmten Nadel im Heuhaufen, die Worte ihres Vaters wiederholend. Frustriert schlenderte sie die kleinen Marktstände entlang, auf der Suche nach einer zwielichtigen Gestalt, bei der sie ihr Glück versuchen wollte. Warum hatte ihr Vater nicht einfach sagen können, sie solle Herrn Baum und Frau Blume kontaktieren. Damit hätte sie zumindest die Wachen fragen können, wo sie denn diese finden könne. Aber die Verborgenen in den Tiefen der Verzweiflung? Wer sollte damit bitte etwas anfangen?

Sie stieß energisch die Luft aus und ließ ihren Blick über die Stände schweifen. Die meisten boten Variationen an Getreide, Hülsenfrüchte, Fisch, oder fertigen Köstlichkeiten an. Vereinzelt wurden auch Fleisch oder Stoffe und Kleider verkauft, doch ein Stand stach Ivy besonders ins Auge.

Hinter einem Tisch, auf dem fein säuberlich Messer und Schwerter ausgepreist waren, saß ein mürrischer Kerl mit Schrotflinte über der Schulter. Die Frau hingegen wuselte um den Tisch herum und beriet Kunden nach bestem Wissen und Gewissen. Ivy grinste bei dem Kontrast der beiden in sich hinein. Es erinnerte sie mit Wehmut daran, wie ihre Mutter Debra immer in der Küche herum gesummt hatte, während ihr Vater mit mürrischem Gesicht am Tisch gesessen hatte und seine Waffe zum Reinigen außeinander genommen und wieder zusammengebaut hatte. Ihre Kindertage waren gezeichnet, von einem warmen Tisch, an den sie jeden Abend kommen konnten.

Ivys Körper steuerte schon beinahe automatisch auf den Tisch zu, so sehr zogen die beiden und die Art des Marktstandes sie an. Mit Messern und Waffen kannte sie sich aus. Das war Loras täglich Brot gewesen und somit auch Ivys, wenn sie mit ihrer Aufpasserin an den Nachmittagen auf dem Markt herum gesessen und jedes Detail in sich aufgenommen hatte. Sie konnte einem Halunken sogar ein für ihn komplett unnützes Taschenmesser verkaufen, während er in Wirklichkeit auf der Suche nach einem schwergewichtigen Säbel war.

Doch bei der dargebotenen Ware verschlug es selbst ihr den Atem. Diese Waffen waren das wahre Gold. Von kleinen geschwärzten Carbonstahlstücken bis hin zu großen, glänzenden und mit Edelsteinen verzierten Kunstschwertern war so gut wie alles vertreten.

„Kann man dir helfen, Mädchen?", flötete die winddünne Stimme der Frau, als Ivy an den Stand heran trat.

Ivy starrte auf die Messer und fühlte die kalte Metallmünze in ihrer Hosentasche. Bei der Qualität dieser Waffen war es ein lächerlicher Versuch, ein Messer mit einer Messingmünze kaufen zu wollen. Sie warf einen schnellen Blick an den Mann mit der Schrotflinte. Und höchstwahrscheinlich ein lebensgefährlicher Versuch, fügte sie in Gedanken hinzu. Aber was, wenn ausgerechnet diese zwei ihr Ticket zu den Verborgenen wären? Es war schon seltsam offensichtlich, wie sie hier auf offener Straße Waffen anboten.

Ivy ließ sich die blonde Mähne vors Gesicht fallen und hielt die Münze wie ein Schild vors Gesicht. „Was bekomm ich dafür?", fragte sie leise. Ihr Herz pochte bis zum Hals und sie hatte Mühe ihre Hände nicht zittern zu lassen. Wenn das die falschen Leute waren, würde der Mann mit der Flinte kurzen Prozess mit ihr machen.

„Steck das schnell weg, Kindchen", antwortete die Frau und warf einen hastigen Blick in ihre Umgebung, doch niemand schien die Szenerie zu beachten. Die Frau trat einen Schritt auf Ivy zu und sah sie aus wachen, grasgrünen Augen an. „Wo hast du das her?", fragte sie hastig und mit gehetzter Stimme.

„Ich... von meiner Schwester", antwortete Ivy wahrheitsgemäß. Sie ließ die Münze in ihre Handfläche zurückgleiten und verstaute sie in ihrer Hosentasche. Volltreffer! Die beiden wussten definitiv etwas über die Münze. Göttliche Fügung oder glücklicher Zufall in einer verdammt verkorksten Zeit, oder einfach die Trefferquote ihrer Suche erfüllt. Ivy war es egal, was dazu geführt hatte, sie schöpfte Hoffnung. Fay hatte ihr kein verlorenes Symbol gegeben, sondern einen Schlüssel.

„Und wie ist ihr Name? Der deiner Schwester mein ich, Kindchen?" Der grimmige Kerl hinter dem Tisch hatte eine Stimme, wie man sie nur von zwanzig Jahren Zigarettenkonsum bekommen konnte.

Ivy zögerte. War der Name ihrer Schwester ein Schlüssel oder ein Hindernis? Fay war immerhin von den Wachen abgeführt worden. Aber dies war ihre Chance, die Leute hatten die Münze offensichtlich erkannt. „Sie heißt Fay Cowan."

Die beiden tauschten einen undeutsamen Blick. „Kann das wirklich sein...?", fragte die Frau gehetzt. „Lass dich ansehen, Kindchen. Zeig mir dein Gesicht."

Etwas widerwillig schob Ivy die blonden, langen Strähnen aus dem Gesicht und offenbarte ihr dreckverschmiertes Gesicht. Das Wegschieben der Strähnen fühlte sich an, als würde man einen Vorhang zur Verletzlichkeit öffnen.

Die Frau schnappte hörbar nach Luft und warf erneut einen Blick auf den Mann, der aber nur etwas mehr Tabak in seine Pfeife stopfte und genüsslich vor sich hin paffte. Die Frau Strecke ihre dürren und vom Arbeiten schwieligen Finger nach ihr aus und drehte Ivys Gesicht sanft hin und her, als würde sie ein kostbares Artefakt begutachten. „Du bist Debras Tochter, oder?"

„Woher...?" Ivy verstummte. Woher kannte diese Frau den Namen ihrer Mutter? Ihre Mutter war seit mehr als acht Jahren tot.

„Schon gut, Kindchen. Deine Mutter genießt meinen größten Respekt. Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten, weißt du das?" Mit einem breiten Lächeln wischte sich die Frau ihre Hände an der Schürze ab.

Ivy schüttelte sich, als die Erinnerungen hochschlugen, die sie wie Gespenster vertreiben wollte. Sie war gerade mal acht Jahre alt gewesen, als ihre Mutter gestorben war. Gerade alt genug, um zu begreifen, dass der Tod endgültig war und ihre Mutter nicht wieder kommen würde. „Sie kannten Mum?", fragte Ivy hoffnungsvoll.

„Kennen wäre übertrieben, Kindchen" sagte die Frau traurig. „Ich wünschte, ich hätte sie wirklich gekannt. Deine Mutter war eine bemerkenswerte Frau, aber ihr Gesicht erkenne ich überall wieder. Mein Name ist Elma und das ist Fred. Und wie heißt du, Kindchen?"

„Ivy", sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns und streckte Elma freudig die Hand entgegen.


So letzter Teil dieser Nacht :) Es war mir eine Ehre, hoffe jemand teilt das Vergnügen! Ab Dienstag geht's wie gewohnt, ab jetzt zwei Mal wöchentlich (Dienstag und Freitag) mit Updates weiter!

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