#18

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„Mum? Dad?", hallte die Stimme von den Höhlenwänden wieder, während ein kühler Luftzug Ivys blonde Mähne durcheinander brachte. Ein junger Mann ließ das schwere Fell, das die Kälte der Nacht draußen halten sollte, fallen und blieb wie angewurzelt im Eingang der Höhle stehen und starrte Ivy an. Er war einen guten Kopf größer aber kaum älter als Ivy und hatte schwarze Haare, die ihm in weichen Locken in die Stirn fielen und einen dunklen Schatten um die Mundpartie bildeten. Seine grünen Augen musterten Ivy von oben bis unten. „Wer bist du und was machst du hier?"

Ivy brauchte einen Moment um sich von seinem Gesicht zu lösen. „I-ich bin Ivy", sagte sie nur.

„Und das soll mir jetzt was sagen?", fragte er.

„Sean-Liebling, da bist du ja endlich." Eine freudestrahlende Elma kam aus dem hinteren Teil der Höhle hervor und umarmte ihn herzlich. „Ich frage besser gar nicht, wo du dich schon wieder rumgetrieben hast. Ivy, Kindchen, das ist unser Sohn Sean", verkündete mit vor Stolz geschwellter Brust.

Ivy sah zwischen den beiden hin und her. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte keine Gemeinsamkeiten zwischen dem groß gewachsenen Sean und der zierlichen und kleinen Elma finden. Aber Freds Argwohn schien Sean perfekt zu beherrschen.

Sean verdrehte die Augen. „Wo habt ihr diese Streunerin schon wieder aufgegabelt? Wie oft muss ich euch noch sagen, dass ihr euer Geld besser für euch ausgebt, anstatt es in irgendwelche dahergelaufenen Hunde zu investieren?"

Autsch, das tat weh.

„Jetzt hab dich mal nicht so und zeig etwas Manieren. Das ist Debrah Cowans Tochter und sie ist unser Gast. Zumal sie sich schon nützlich gemacht hat und angefangen hat die alten Büchsen deines Vaters zu reinigen", schimpfte Elma.

Ivy lächelte schwach, froh darüber, dass ihr Versuch wenigstens nicht zur Last zu fallen, scheinbar Anklang fand.

Sean zog eine Augenbraue hoch und schnaubte. „Na, wenn sie das kann", sagte er, ehe er sich in den hinteren Teil der Höhle zurückzog. „Und nur damit eines klar ist, mein Zimmer ist tabu!", rief er, ehe seine Worte von tosendem Wasser bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wurden.

Ivy konnte nicht anders, als Elma hilfesuchend anzustarren. Sie hatte nicht bedacht, dass die alten Leute keinen Platz für sie haben könnten, als sie der Einladung gefolgt war, noch hatte sie daran gedacht, dass es finanziell vielleicht schwierig sein könnte, noch einen Mund mit zu füttern. Hastig kramte sie in ihrem Rucksack. Sie musste doch noch irgendwo einen Sack Reis und Linsen haben. Fay konnte nicht meckern und ihr Vater wurde im Krankenhaus versorgt. Etwas zum gemeinsamen Brot beizusteuern, war das mindeste, das sie tun konnte.

„Hier", sagte sie und hielt Elma die beiden Säcke mit trockenen Linsen und Reis hin.

Elma jedoch lachte nur. „Lass gut sein, Kindchen. Du bist unser Gast. Komm setz dich erst Mal zu uns und erzähl uns, wie du überhaupt in die Stadt gekommen bist – und vor allem, warum du so mutterseelen alleine unterwegs bist. Du bist doch kaum 16, oder?"

„Seit ein paar Tagen", sagte Ivy leise, während sie Elma hinter die Tücher folgte, die den Eingangsbereich von der kunterbunt zusammengewürfelten Küche trennten. Fred stand am Herd und rührte über der blauen Gasflamme im Topf herum. Daneben und auf dem wackeligen Gerüst, das wohl der Esstisch sein sollte, standen kleinere Gläser mit allerhand Kuriositäten gefüllt und ein wuchtiges Schneidebrett auf dem Karotten in kleine Stücke zerhackt wurden. Aus dem Topf wehte eine würzige Note in Ivys Nase, woraufhin sich ihr Magen augenblicklich zu Wort meldete. Ivy seufzte und ließ sich auf die grobe Holzbank, die ebenfalls mit Decken behangen war, nieder. „Mein Vater ist im Krankenhaus und meine Schwester Fay hat irgendetwas getan, um die Behandlung zu zahlen, woraufhin sie von den Wachen abgeführt wurde. Ich suche sie seit Wochen vergebens. Macht es wirklich keine Umstände, wenn ich bleibe?", fragte Ivy kleinlaut.

„Aber natürlich nicht, Kindchen. Lass dich von Sean nicht verunsichern – er hat das Herz am rechten Fleck", tadelte Elma. „Wie steht es um deinen Vater?"

„Es geht ihm von Tag zu Tag besser. Er redet schon von Entlassung, aber die Ärzte sagen, dass er noch gut eine Woche dort bleiben muss bis die ganze Prozedur abgeschlossen ist." Ivy verzog die Miene, als sie von den Ärzten sprach. Tinas Verhalten saß ihr immer noch in den Knochen. „Darf ich fragen, woher ihr meinen Mutter gekannt habt?"

Elma warf einen raschen Blick zu Fred, der sich prompt vom Topf abwandte und mit dem Kochlöffel in der Luft herumfuchtelte. „Deine Mutter hat dafür gesorgt, dass unser Sohn gesund zur Welt kam."

Elma seufzte. „Ihr Tod war eine Tragödie für die ganze Gemeinschaft. Aber wem sag ich das? Du als ihre Tochter hast einen der größten Verluste erlitten." Sie langte über den Tisch nach Ivys Hand. „Aber erzähl, Kindchen, wie geht es deinen Geschwistern? Du hast einen Bruder und eine ältere Schwester nicht?"

Ivy schluckte. Sie war gerade mal acht Jahre alt gewesen, als ihre Mutter gestorben war. Zu klein um den Tod begreifen, aber gerade alt genug, um den Tod als endgültig zu verstehen. Verstohlen zwinkerte sie die aufkommenden Tränen weg. „Wir sind bei Lora untergekommen, die auf uns und den Sohn von Dads Partner geschaut hat, wenn Dad Jobs zu erledigen hatte. Fay hat ziemlich schnell, Mums Position übernommen, und Dads Aufträge organisiert und ist dann mit 16 direkt ins Familiengeschäft eingestiegen. Für sie gab es nie einen anderen Weg. Sie hat immer alles geregelt und sich darum gekümmert, wenn ich mal wieder Probleme mit den anderen Kindern hatte. Aber wie gesagt, ich habe aktuell keine Ahnung, wo sie stecken könnte. Genauso wie wir seit dem Tod der Mutter kein Wort mehr von Neal gehört haben. Wir wissen zwar, dass er zur Armee ist, aber wir haben seit Jahren nichts mehr von ihm gehört." Ivys Kopf landete auf dem Tisch. Sie wollte nicht, dass man ihre Tränen sah. Wie hatte sie es zulassen können, dass man Fay so einfach mitnahm? Sie hätte ihr nachlaufen, um eine Erklärung fragen müssen. Es war eine Sache, dass Neal nicht mehr auf Briefe und Co reagierte, aber es war eine andere Sache, wenn die eigene Schwester vor der Nase abgeführt wurde.

Elma tätschelte ihr die Hand. „Na, na, Kindchen. Deine Geschwister können doch nicht vom Erdboden verschluckt sein. Ich bin mir sicher, es gibt eine Erklärung. Wie wäre es, wenn sich Sean morgen mal in der Stadt umhört, ob es neue Anklagen oder ähnliches gibt?"

Ivy sah hoch, doch ehe sie etwas sagen konnte, hörte sie Seans Schnauben hinter sich. „Mum, zieh mich nicht in diesen Dreck mit rein. Ihr habt sie aufgenommen, sie ist eure Sache!"

„Ihre Mutter ist der Grund dafür, dass du überhaupt auf der Welt bist – das ist das mindeste, was wir tun können!", sagte Elma. „Nimm sie morgen einfach in die Stadt mit, dann seht ihr weiter. Mach dir keine Sorgen, Kindchen, wir finden dein Schwester."


Ich fass es nicht, dass wir schon bei Kapitel 18 sind :) Am Anfang diesen Jahres habe ich das hier noch nicht mal online gehabt und nicht im Traum daran gedacht, etwas zu veröffentlichen und jetzt sowas ^^° An dieser Stelle danke an alle Leser, die mit meiner Geschichte miteifern und sie verfolgen! Das Feedback hier motiviert ungemein! Deshalb danke, an alle, die das hier möglich gemacht haben.

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