FÜNF

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Freitag
19.05.2017

Mein Herz pochte noch Stunden nach dem Kuss wie eine Zeitbombe, so laut, dass es für die anderen hörbar sein musste. Nicht unbedingt wegen ihm, aber wegen Carlos Worten. Irgendwie hatte er recht. Ich wollte in meinem Leben so viel mehr erreichen. Etwas in meinem innersten allerdings, hielt mich davon ab.

Langsam schloss ich meine Augen, versuchte meinen Atem unter Kontrolle zu bringen.
Es kam mir so vor, als hätte ich mich seither nicht mehr bewegt, als wäre keine einzige Sekunde dazwischen vergangen. Dennoch saß ich gerade in meiner Wohnung auf einem Stuhl. Das war so ziemlich die einzige Tatsache, warum ich wusste, dass die Zeit nicht stehen geblieben war.

Kathys Schritte ertönten durch den gesamten Raum. Einmal waren sie schneller, dann wieder gemütlich und anschließend schien die Welt untergegangen zu sein. Was einigermaßen Routine geworden war, seitdem sie mit Tom ausging. In meinen Gedanken schrie sie mich schon wieder zusammen, denn eigentlich hieß er ja Tim. Durch ihre jedoch viel zu hohen Schuhe für ein gewöhnliches Picknick, blieben klare Gedankenzüge dennoch bei mir aus und bald würde auch unsere Nachbarn kommen und mir zustimmen. Sie würden schreien und ich würde ihnen wieder einen Tee anbieten. Dann würden sie freundlicher werden und mir ins Gespräch kommen über das Studium, welches ich nur machte, weil ich keine weiteren Optionen hatte.

"Glaubst du ich mach das... das Richtige?"

Ihre High heels verstummten auf dem alten Holzboden und ich sah ihr in ihr völlig verwirrtes Gesicht. Normalerweise kannte sie mich besser, als alle anderen Menschen auf diesem oberflächlichen Planeten. In diesem Moment jedoch so gut wie jeder andere auch. Meine Frage bereute ich bereits. Tief atmete ich ein und aus.

"Was meinst du?"

Seht ihr sie hatte keine Ahnung und Carlo wusste es schon nach wenigen Stunden. Er gab einem ein gutes Gefühl. Er wusste, wie man spielte.

"Das Studium... ich meine sollte ich weitermachen?"

Fragend blickte sie zu mir. Ging auf mich zu. Ich stand auf. Meine Beine zitterten, sie hielt mich an den Armen fest. Sah mir in die Augen und bemerkte nicht mal annähernd meine Verzweiflung, dass ich wirklich Hilfe bei dieser Entscheidung brauchte. Das einzige was sie tat, war es zu nicken und zu sagen.

"Du kannst nicht einfach aufhören. In ein paar Monaten bist du froh darüber, weitergemacht zu haben. Lina, das ist alles nur eine Fase"

Ihre Taten schockierten mich. Ihre Worte ließen mich an allem zweifeln. Eine Fase? War das alles was ihr dazu einfiel? Warum konnte sie nicht einfach so tun, als würde sie ernsthaft darüber nachdenken?
In meinen Augen bildeten sich die ersten Tränen. Es wurde mir einfach alles zu viel. Vor allem da ich keine Ahnung von meinem eigenem Leben hatte. Diese Ungewissheit wer ich war und warum ich hier auf diesem Planeten leben sollte, zerstörte mich.

"Eine Fase? Lebe ich also seit Monaten in einer Fase?"

Ich befreite mich von ihrem Griff und sah sie starr an. Mein Blick geleitete zu der Tür ab. Ohne weiter zu denken wollte ich losrennen. Wurde aber zurückgehalten.

"Lina!"

Ihre Wörter verloren mit jedem Atemzug mehr ihre Bedeutung.

"Nein, nicht Lina. Auch wenn du es nicht weißt ich heiße Paulina, Paulina verstehst du? Ich bin nicht Lina oder das kleine Linchen oder dein Paulinchen, nicht dein Kummerkasten und auch nicht deine beste Freundin. Ich bin Paulina und ich bräuchte genau jetzt eine beste Freundin, die mir nicht nur sagt, dass ich das richtige tue, weil sie zu ihrem Tom gehen will. Momentan bräuchte ich mehr als das. Ich bräuchte jemanden, der mir sagen kann, wer Paulina ist. Wer ich bin. Aber du bist wie ausgewechselt. Katharina, bitte sag mir, dass du weißt, dass ich mit dem hier nicht glücklich bin. Bitte, sag mir, dass du momentan nur keine Zeit dafür hast. Sag mir, dass du nur momentan nicht meine beste Freundin bist, weil auch um dich alles zerfällt."

Tränen rannten meine Wangen hinunter, zaghaft entfernte sie ihre Hände von mir und sah auf den Boden hinab. Ihr Gesichtsausdruck war weder betroffen noch traurig. Sie war einfach nur glücklich. Trotzdem bröckelte ihre Stimme.

"Lina?"

Mit meinem Handrücken wusch ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Es war im Moment einfach zu viel für mich. Das alles hier war mir zu viel.

"Es ist okay... echt. Morgen komm ich wieder... Ich... ich muss jetzt gehen."

Ein letztes Mal hörte ich meinen Namen aus ihrem Mund, bevor ich mein Handy geschnappt hatte, ein wenig Geld und einen Rucksack. Dann flog die Tür ins Schloss und ich rannte die Stufen hinunter. Erntete unschlüssige Blicke unserer Nachbaren, die gerade den Weg in unsere Wohnung machen wollte und rannte einfach weiter. Kurz hatten wir Augenkontaktgehalten, dies für wenige Sekunden. Dennoch bin ich mir sicher, sie haben meinen Kummer gesehen. Oder nur meine verschmierte Wimperntusche.

Die Straße war plötzlich zu kurz. Die Menschen um mich herum zu viel und er zu unerwartet. Plötzlich sah ich ihn da stehen. Plötzlich war er da.

Er betrachtete 20 Meter von mir entfernt ein Skateboard welches an einem Trödelmarkt verkauft wurde. Er lächelte und ich blieb stehen. Mit meinem viel zu großem Pullover stand ich zwischen den Menschen und war alleine. Er hingegen fing an mit dem Verkäufer zu verhandeln. Er stellte sich auf das Bord. fuhr in meine Richtung, bemerkte mich aber nicht. Dafür war ich viel zu weit von ihm entfernt und zu viele Menschen waren um mich herum. Carlo hingegen stand beinahe alleine da war es dennoch weniger als ich. Der Verkäufer war ja auch noch da. Mit einem Stoff kam er und zeigte ihm seinem Käufer. Dessen Mund wurde aufgerissen und nickend deutete er nach hinten. Daraufhin kam der Verkäufer mit noch mehr Stoff zurück. Blau, grün, Gelb, rot alles war dabei. Er packte es in einen Sack und Carlo ging dabei den Rest durch, bis er eine Kamera in seiner Hand hielt. Sie war ziemlich alt und noch mit Film für ihn jedoch genau das richtige. Er deutete auf sie, verhandelte anscheinend mit dem Verkäufer noch über dem Preis, bezahlte und ging mit dem Skatebord unter dem Arm los.

Ich verlor ihn aus den Augen, ging in die entgegengesetzte Richtung und bemerkte eine Nachricht auf meinem Handy.

>> Hab dich gesehen & warte im Skatepark auf dich, bring was zum trinken mit. <<

wunderschöne Lügengeschichten (Cro Ff)Where stories live. Discover now