00. Viviana Rogers

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1946, New York City


Die Schreie einer Frau erfüllten das Krankenzimmer und mehrere Hebammen huschten umher. Eine von ihnen kniete neben der Frau, die mitten in den Wehen lag und sich vor Schmerzen verkrampft an die Bettkante klammerte. Die Hebamme hielt eine Schale voll Wasser, tauchte gelegentlich ein Tuch darin ein und wischte der brünetten Frau die Schweißtropfen von der Stirn. Die Frau war keine geringere als Agent Peggy Carter, ehemalige Geliebte des bewunderten Steve Rogers, auch bekannt als Captain America, der sein Leben seinem Land und einer besseren Welt ohne Krieg geopfert hatte.

„Das machen Sie sehr gut, Miss Carter," lobte der Arzt, der die Geburt des Kindes überwachte. „Noch ein letztes Mal kräftig pressen und wir haben es geschafft."

Ein weiterer Schrei rang durch die Luft, als Peggy all ihre Kraft in die letzte Wehe steckte und ihrem Kind somit den letzten Stoß gab, um auf die Welt zukommen. Sekunden später ertönten bereits die Schreie des Neugeborenen und Peggy erschlaffte, erschöpft von der schweren Geburt. Die Hebamme betupfte weiterhin ihre Stirn mit kühlem Wasser, während Peggy darauf wartete, dass man ihr das Neugeborene brachte.

Der Arzt übergab es ihr einige Minuten später, nun sauber und in ein samtig weiches Tuch gewickelt, die klaren blauen Augen blinzelten müde und die winzigen Hände schweiften durch die Luft auf der Sucher nach etwas, das sie greifen konnten. Peggy konnte nicht anders als glücklich zu strahlen, als sie den kleinen Sonnenschein in ihren Armen halten durfte und erkannte, dass es ein Mädchen war.

„Herzlichen Glückwunsch, Miss Carter," gratulierte der Arzt und lächelte. Der Anblick hätte jedem das Herz erwärmt, ohne Frage. „Haben Sie bereits eine Namenswahl getroffen?"

„Ja," antwortete Peggy, die Augen fest auf das Bündel in ihren Armen geheftet, kaum die Welt um sich herum wahrnehmend. „Ich möchte sie nach ihrem Vater benennen. Viviana Grace Rogers."

Lächelnd notierte der Arzt den Namen des Mädchens, tätschelte Peggy die Schulter und wünschte ihr eine rasche Erholung.

Vivianas Hände schweiften weiterhin durch die Luft, sodass Peggy sie letztlich sanft in ihre eigene Hand nahm und einen federleichten Kuss auf ihnen platzierte, bevor sie eine der Hände an ihre Wange führte und Viviana erlaubte, sie zu berühren. Zierlich fuhren die winzigen Finger über ihre Haut und verstärkten das Strahlen auf Peggys Gesicht. Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas so Schönes empfunden wie in diesem Moment.

„Miss Carter," unterbrach eine Hebamme den rührenden Moment, „Sie müssen sich ausruhen. Wir werden uns in der Zeit sorgsam um die kleine Viviana kümmern, versprochen."

„Ich möchte sie nur noch kurz ansehen," sagte Peggy und ließ ihre Augen ein letztes Mal über Vivianas Gesicht wandern, über ihre kleine Stupsnase, die gerunzelte Stirn und die neugierig blinzelnden blauen Augen, die sie ohne Zweifel von ihrem Vater geerbt hatte.

Dann überreichte sie Viviana an die Hebamme, welche das Mädchen vorsichtig in den Arm nahm und lächelnd das Zimmer verließ.

Sobald Peggy sich alleine in dem Krankenzimmer befand und vor Erschöpfung kaum noch die Augen offen halten konnte, wanderten ihre Gedanken zu Steve und die tragische aber heldenhafte Weise, wie sie ihn verloren hatte und ihr nichts als ein Kind von ihm geblieben war. Sie liebte Viviana, daran bestand kein Zweifel, doch hätte sie es umso schöner gefunden, wenn Steve an ihrer Seite gewesen wäre und auch ihn dieses Glücksgefühl durchströmte, das noch immer durch ihre Adern floss.

„Wieso tust du mir das an, Steve," murmelte Peggy, als ihr die Augen zufielen und sie in tiefen Schlaf versank.


1952, New York City


Viviana hatte sich zu einem Ebenbild ihrer Mutter entwickelt – abgesehen von ihren Augen, die das Einzige waren, das den beiden von Steve blieb. Doch darüber war Peggy froh, denn so wusste sie immer, dass ein Teil von Steve in Viviana weiterlebte und er nicht vergebens von ihr gegangen war. Sie beobachtete Viviana dabei, wie sie auf dem Teppich im Wohnzimmer lag, eine ganze Packung Wachsmalstifte vor sich ausgebreitet, mit einem Stapel blanken Papiers neben sich aufragend. Alleine die roten und blauen Wachsmalstifte waren soweit abgenutzt, dass sie nur noch kleine Stumpen waren. Unzählige Male hatte Viviana ihren Vater als Captain America gemalt, begeistert davon, einen Superhelden als Vater zu haben und mit dem Ziel vor Augen, eines Tages ebenfalls Großes zu vollbringen.

„Wenn ich groß bin, will ich genauso werden wie daddy," pflegte Viviana vor dem Schlafengehen zu sagen.

Auch ihre Zimmerwände waren über und über mit alten Postern und Bildern von Captain America beklebt. Peggy konnte es ihr nicht verübeln und unternahm deshalb nichts gegen die sich entwickelnde Obsession ihrer Tochter; sie selbst hatte es nie geschafft, über Steve hinwegzukommen.

„Ana, ich muss jetzt zur Arbeit," verkündete Peggy, während sie ihre Handtasche durchwühlte und den Hausschlüssel heraus kramte. „Rosa wird gleich hier sein und auf dich aufpassen. Ich erwarte, dass du dich wie immer benimmst und aufräumst, wenn du mit Malen fertig bist."

„Ja, mummy."

Peggy drückte ihrer Tochter einen Kuss auf den Scheitel, bevor sie durch die Haustür verschwand und sich Stille über das Haus legte. Summend fuhr Viviana damit fort, ihren Vater in verschiedenen Szenarien als Captain America zu malen. Jedoch hatte sie kaum noch blaue Farbe übrig, weshalb sie sich widerwillig und seufzend erhob und begann, den Schreibtisch ihrer Mutter auf der Suche nach neuen Stiften zu durchstöbern.

Ein Tumult vor der Haustür ließ sie jedoch innehalten. Laute Schritte und flüsternde Stimmen sammelten sich davor und ein seltsames klickendes Geräusch erklang, als würde jemand eine Waffe laden. Von Neugier ergriffen schlich Viviana auf die Tür zu, drückte ein Ohr dagegen und lauschte. Für einen langen Augenblick schien alles wieder still zu sein, doch dann ertönte ein lauter Knall und die Tür erbebte. Sofort sprang Viviana zurück und beobachtete voller Schreck, wie die Haustür erneut erzitterte und schließlich aus ihren Angeln gerissen wurde. Krachend fiel sie zu Boden und mindestens ein Dutzend bewaffnete Männer in schwarzen Uniformen drangen in das Haus ein.

Schreiend hetzte Viviana die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, warf die Tür hinter sich zu, drehte den Schlüssel im Schloss herum, sodass sich die Tür mit einem leisen Klicken verschloss und verkroch sich unter dem Bett. Mit rasendem Herzen und flachem Atem wartete sie ab, was als nächstes geschehen würde und kniff vor Angst die Augen zu.

Kaum eine Minute später näherten sich schwere Schritte ihrem Zimmer und Viviana wimmerte leise. Dann ertönte erneut ein Knall und ihre Zimmertür landete neben dem Bett auf dem Boden. Viviana zuckte zusammen und presste beide Hände fest auf ihren Mund, um zu verhindern, dass sie auch nur einen Muckser von sich gab. Aber sie schien sich das falsche Versteck ausgesucht zu haben, denn die fremden Männer fanden sie ohne großen Aufwand und zerrten sie an Armen und Beinen unter dem Bett hervor. Strampelnd und um sich schlagen versuchte Viviana sich loszureißen und schaffte es, den beiden Männern, die sie festhielten, zwei kräftige Tritte in den Brustkorb zu verpassen, die sie aufkeuchen und nach Luft rangen ließen. Dank dem Serum, das ihrem Vater damals verabreicht wurde, hatte auch Viviana ausgeprägte Kraft, Heilung und verschärfte Sinne, die ihr bereits die Kraft eines ausgewachsenen Mannes verliehen.

Sogleich wurde sie von vier weiteren Männern geschnappt, als sie versuchte, das Fenster zu öffnen und an der Regenrinne hinunter zu klettern. Ein fünfter Mann trat von hinten auf sie zu, hob sein Gewehr und ließ dessen Lauf auf Vivianas Hinterkopf niedersausen. Viviana stieß einen Schmerzensschrei aus, alles um sie herum begann sich zu drehen und zu verdunkeln. Das letzte, was sie noch wahrnahm, war ein kleiner Mann, der die Männer anwies, sie in einen Wagen zu bringen und sie ermahnte, die Fesseln nicht zu vergessen. Sie versank in endloser Dunkelheit.


𝐓𝐇𝐄 𝐏𝐑𝐈𝐙𝐄 𝐎𝐅 𝐅𝐑𝐄𝐄𝐃𝐎𝐌 | 𝗠𝗮𝗿𝘃𝗲𝗹Where stories live. Discover now