Kapitel 49: Eskalation

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„Sieht es allzu schlimm aus?", jammerte er und verzog schmerzvoll das Gesicht.
„Na ja..." Jetzt, wo das ganze Blut weg war, sah es nicht mehr so brutal aus, dennoch war sein Nasenrücken leicht geschwollen und unter seinen Augen bildeten sich langsam aber sicher fiese Ergüsse. „Ich fürchte verstecken wirst du es nicht können..."

„Verdammt." Niedergeschlagen ließ er den Kopf hängen. „Wie erkläre ich das jetzt meinem Vater? Er wird es gar nicht lustig finden, dass ich mich einfach verprügeln lasse, wie ein kleines Kind."
Bei der Erinnerung an die Auseinandersetzung zog ich bitter die Augenbrauen zusammen.
„Es tut mir leid, Demian. Ich weiß nicht, was Rajan dazu bewegt hat, so die Fassung zu verlieren."

Er lächelte schwach.
„Eigentlich hat er ja recht. Du bist seine Verlobte. Es wäre besser, dich von mir fern zu halten..."
„Aber ich mag dich", flüsterte ich. Der Satz rutschte mir einfach so heraus, doch der Kloß in meinem Hals bewies mir, dass es die Wahrheit war.

Demians Augen wurden erst ganz groß, dann zog sich wieder das vertraute Grinsen über sein Gesicht. „Gestehst du es dir jetzt endlich ein, ja?", fragte er genauso leise und schielte einmal zu meinen Wachen, die einige Meter entfernt standen und hier auf uns gewartet hatten. Den letzten Teil der Konversation dürften sie nicht verstanden haben.

Doch genauso schnell, wie der fröhliche Ausdruck in seinem Gesicht gekommen war, verschwand er auch wieder.
„Ehrlich gesagt, habe ich mich schon gefragt, wann er mal die Beherrschung verliert", meinte er und zog die Augenbrauen zusammen.
„Wieso?", fragte ich verwirrt.
Er rieb sich die Finger, sein Blick zuckte nervös über mein Gesicht.
„Ich sollte dir etwas erzählen."

~

Auch wenn es mir vorkam als sei der Vorfall Stunden her, hatte die Sonne ihren Weg am Himmel kaum fortgesetzt.
Demian und ich saßen auf einer Bank an einem der zahllosen kleinen Teiche im Park. Meine Wachen hatte ich angewiesen am Wegesrand zu warten. Sie waren deutlich unzufrieden damit, doch da sie mich immer noch gut im Auge behalten konnten, hatten sie keine andere Wahl als zu gehorchen. Es war immer noch seltsam für mich, Befehle auszusprechen, auf welche andere zu hören hatten, aber das würde wohl eine Sache sein, an die ich mich als Lady von Meereshorn gewöhnen musste.

„Seltsam, dass sie dir nichts darüber gesagt haben...", murmelte Demian und riss mich damit aus den Gedanken.
„Worüber denn?"
Er sah mich kurz an, dann atmete er tief durch, lehnte sich vor und stützte sich mit den Unterarmen auf den Oberschenkeln ab.

„Hat Rajan dir von seinem Bruder erzählt? Kristan?"
Ich zog die Augenbrauen hoch und nickte. Den Nachmittag nach dem Turnier, als ich mit Rajan auf der Mauer stand, würde ich wohl so schnell nicht vergessen. Als er das erste Mal sein Herz öffnete und vom Tod seines kleinen Bruders sprach. Mit einem Stechen im Herzen dachte ich an Arley, verdrängte den Gedanken aber eilig. Ich wollte jetzt nicht trauern, die letzten Nächte waren hart genug.

„Ich war es", presste Demian hervor.
Ich wartete darauf, dass er weiter sprach, aber es kam nichts.
„Was warst du?", hakte ich nach.
Er fummelte nervös an seinem Armband und rang offensichtlich mit sich.

„Ich war Kristans Gegner in dem Turnier. Ich war es der ihn vom Pferd stieß."

Es war eine tiefe, seltsame Kälte die sich in mir ausbreitete, mir vermutlich auch das Blut aus dem Gesicht trieb.
Ich kannte Kristan Thymeris nicht. Ich hatte keine besondere Verbindung mit ihm. Aber was dieser Name in mir auslöste, war das Bild von Rajan in meinem Kopf, diese unendliche Emotion, unendliche Trauer in seinen Augen.

„Ich hatte gesehen, dass er irritiert wurde", fuhr Demian fort. „Dass er seine Konzentration verlor. Aber alles ihn mir schrie nach Sieg." Er presste die Zähne zusammen, seine Kiefermuskulatur arbeitete deutlich. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass er..."

Eine eisige Stille breitete sich zwischen uns aus.
Ich machte ihm keine Vorwürfe, auch wenn er das jetzt vermutlich dachte. Und es tat mir leid, dass ich es nicht sofort aufklärte, aber mein Kopf kämpfte immer noch mit der Verarbeitung dieser Information. Irgendwie widerstrebte es mir, diese beiden Stränge – Rajans Leid durch Kristans Tod und Demian – miteinander in Verbindung zu bringen.

„Es war ein Schock für mich, dass er tot war", sprach er irgendwann leise weiter. „Erst verstand ich es nicht. Ich war so mit meinem eigenen Sieg beschäftigt, dass ich nicht einmal realisierte, dass Kristan vom Pferd erfasst und gegen die Bande geschleudert wurde. Mir wurde erst bewusst, dass etwas nicht normal war, als der Jubel des Publikums plötzlich verstummte. Rajan war da. Er hockte auf dem Boden. Ganz still, ganz starr, er sagte keinen Ton. Dann kam Meister Aureus. Ich weiß noch wie er sich über den Körper des Jungen beugte, ihn sich eine ganze Weile ansah... und schließlich zum König hochblickte und den Kopf schüttelte. Kristan war tot. Der, der mir einige Sekunden zuvor noch wild entschlossen die Stirn geboten hatte. Der, dem ich einige Sekunden zuvor noch in die Augen gesehen hatte. Einfach tot." Er hob die zitternde Hand und fuhr sich einmal durch die Haare, bevor er den Kopf drehte und mich mit leerem Blick ansah. „Und genau deswegen hasst er mich. Rajan kann mich auf den Tod nicht ausstehen. Und jetzt hat er Angst, dass ich ihm dich auch noch nehme."

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