Kapitel 6: Heimweh

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  Als ich am nächsten Morgen aus dem Zelt trat stand dort ein gesatteltes weißes Pferd. Es war Lumi, meine Stute.
Lord Thymeris stand vor ihr und hielt sie am Zügel. Ich begann zu strahlen und lief auf sie zu.
"Hallo, mein Mädchen", flüsterte ich und tätschelte ihr den Hals. Lumi schnaubte freudig und wackelte mit dem Kopf.
"Guten Morgen, Lady Aree."
Ups. Beschämt blickte ich zu ihm auf. "Guten Morgen."
"Wir werden natürlich Rücksicht auf Euch nehmen. Vielleicht wechselt Ihr beim ersten Halt in die Kutsche. Falls es vorher nicht mehr geht, sagt Euren Zofen Bescheid, sie werden jemanden benachrichtigen und wir halten."
Während er sprach lief er um das Pferd herum und prüfte alle Gurte. Dann winkte er mich zu sich und hob mich einfach ohne Umstände und Diskussionen in den Damensattel.
Es war schön, zu reiten und sich den Wind um die Nase pusten zu lassen. Sarameh und Roya flankierten mich und erzählten mir die ganze Zeit irgendein belangloses Zeug, wobei ich ihnen gar nicht so richtig zuhörte.
Unser Halt war an einer Gaststätte, wo neuer Proviant dazu gekauft wurde, obwohl noch genügend von Feste Schneewacht übrig war. Als angekündigt wurde, dass die Kolonne aufbrechen würde, ließ ich mir von meinen Zofen erneut aufs Pferd helfen. Ich wusste nicht ob es so klug war, Lord Thymeris' Anweisungen zu missachten, aber ich wollte nicht wieder den ganzen Tag in der stickigen Wackelkiste hocken. Außerdem war mir aufgefallen, wie uneben und kaputt die Straße auf dieser Passage war und das wäre in der Kutsche sicherlich kein Vergnügen.
Die Straße führte einen Hügel hinauf. In der Ferne sah ich die Reiter an der Spitze die Erhebung erklimmen. Wenn der Lord sich jetzt umwandte, konnte er sehen, dass die Kutsche ganz am Ende der Kolonne fuhr und würde sofort wissen, dass ich mich nicht darin befand. Täte ich es, würde sie sich mittig der Kolonne befinden. Circa zweieinhalb Stunden nach der Pause - zugegeben, mein Rücken tat von der verdrehten Haltung auf dem Damensattel ganz schön weh - zogen dunkle Wolken über uns zusammen und es begann zu nieseln. Ich sah wie sich vom vorderen Teil der Kolonne drei Reiter in schnellem Tempo näherten. Es war Lord Thymeris, zusammen mit Joren, dem Hauptmann der Wache, und Tristan, dem Schatzmeister und Berater der Lords. Das wusste ich dank meiner neuen Zofen.
Kurz bevor sie uns erreichten, kamen die Gefolgschafter vor uns zum Stillstand. Lord Thymeris bremste sein Pferd scharf ab, sodass es knapp neben uns zum Stehen kam. "Lady Aree, ich möchte, dass Ihr Euch in die Kutsche begebt. Das wird ein stärkerer Regenguss." Ohne meine Antwort abzuwarten lehnte er sich hinunter, griff nach Lumis Zügeln und trieb seinen Braunen wieder an, bis wir vor der Kutsche stehen blieben.
Er stieg elegant aus dem Sattel, hob mich vom Pferd und begleitete mich zur Tür, die der Kutscher bereits geöffnet hatte. Roya und Sarameh rutschten hinter mir hinein und ohne ein weiteres Wort schloss der Lord die Tür.
Das Gespann wurde in die Mitte des Zuges verlegt und dann entfernten sich die drei Reiter. Kurz darauf bewegte sich die Kolonne weiter.  

Lord Thymeris sollte recht behalten. Keine fünf Minuten später pladderte es so doll, dass ich kaum noch die Wachsoldaten erkennen konnte, die die Kutsche flankierten. Und der Regen hielt an, über bestimmt zwei Stunden hinweg. Er prasselte so laut auf dem Dach, dass ich meine Zofen kaum verstehen konnte, aber ich bemitleidete viel mehr die Menschen, die draußen waren und reiten mussten. Zusammen mit der kalten Luft des Nordens musste es unerträglich sein, bis auf die Knochen durchnässt zu werden.
"Rajan hat ein Gespür für das Wetter", sagte Sarameh lächelnd. "Er weiß immer schon vorher, wann ein Sturm oder dergleichen ansteht."
Es dämmerte bereits, als der Regen ganz nachgelassen hatte und die Kutsche wieder hielt. Ich wollte nach draußen, mir die Beine vertreten und sehen wie es den Menschen ging, ob ich eventuell irgendwie helfen konnte, doch als ich von innen die Tür aufstieß musste ich feststellen, dass wir mitten über einer riesigen Schlammpfütze standen. Als ich gerade abwägte, wie wichtig die Schuhe wohl waren und ob ich mir den Sprung in den Schlamm leisten konnte, hörte ich Hufgetrappel und sah wie Lord Thymeris herbei kam, wahrscheinlich um nach mir zu sehen. Wie nicht anders zu erwarten, war er völlig durchnässt. Seine Locken klebten ihm im Gesicht, das Fell um seine Schultern musste sich aufgesogen haben und nun unendlich schwer sein. Er überblickte die Lage schnell und zischte dem Kutscher etwas zu, was ich nicht verstand, aber sein Gesichtsausdruck dabei sprach Bände. Als er abstieg quietschte der Ledersattel fürchterlich. Ohne mit der Wimper zu zucken lief er in die Pfütze zu mir. Ich sah, dass seine Stiefel bis über den Knöchel darin versanken, und war nun froh, nicht gesprungen zu sein. Wahrscheinlich wäre ich auch noch ausgerutscht.
"Wollt Ihr Euch die Beine vertreten, Mylady?" Durch seine nassen Haare hinweg sah er zu mir hoch.
"Ehm, nein, das geht wohl nicht. Ich kann einfach in der Kutsche bl-huch!"
Er hatte mich ohne Vorwarnung an der Taille hochgehoben, doch bei meinem Geschick war ich auf der Trittstufe der Kutsche weggeglitten und gegen ihn geprallt. Vor Schreck hatte ich mich an seine Schultern gekrallt, es allerdings nicht registriert und deshalb nicht losgelassen. Kurz stand er noch da, vielleicht, weil er wartete, dass ich ihn losließ, vielleicht aber auch weil er selbst etwas irritiert war, jedenfalls trug er mich dann einfach so, wie ich gerade an ihm hing, durch die Pfütze. Am anderen 'Ufer' stellte er mich vorsichtig auf die Füße. Eilig ließ ich ihn los, ich merkte wie mir die Schamesröte ins Gesicht stieg. Warum musste ich in Situationen in denen es auf etwas ankam, wie zum Beispiel Eleganz und Anmut, immer auftreten wie der letzte Trottel?
"Vielen Dank, Mylord", murmelte ich und sah beschämt zu Boden.
„Es gibt nichts zu danken. Vertretet Euch die Beine. Ich werde sehen, was sich machen lässt, aber ich fürchte, es läuft darauf hinaus, dass Ihr in der Kutsche nächtigen müsst." Sein Blick fuhr ziellos über die nasse, schlammige Landschaft. „Eure Zofen werden dafür sorgen, dass es so angenehm, wie möglich sein wird." Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und stapfte über das nasse Pflaster zurück zu seinem Ross. Mittlerweile hatte der Kutscher, nach dem Kommentar von Lord Thymeris, die Pferde noch einmal angetrieben und die Kutsche einige Meter weiter vorne platziert, Roya und Sarameh kletterten gerade hinaus.
~
Zu meinem Leidwesen musste ich tatsächlich in der Kutsche schlafen. Mir wurden Decken und Kissen im Fußraum aufgetürmt, da die Bänke zum Schlafen zu schmal waren. Auf einer aufklappbaren Ablage war ein kleiner Kohleofen platziert worden, damit es nicht zu kalt wurde. Ich verzog einmal den Mund, da alle anderen außer mir draußen in der Kälte auf dem nassen Boden schlafen mussten.
Jedenfalls war es nun tiefste Nacht und von draußen schien nur noch wenig Licht hinein. Mich plagte wieder das Heimweh und ich lag wach und verheult da und starrte an die erloschene Kerzenvorrichtung an der Decke.
Wieso denn ausgerechnet ich? Ich wollte nur nach Hause, zu meiner Familie; zu meinen Brüdern und meinen Eltern. Ob sie mich genau so sehr vermissten, wie ich sie?
Mit einem tiefen Seufzer rappelte ich mich auf, zog mir eilig ein schlichtes Kleid über mein Nachthemd und öffnete leise die Kutschentür, um vorsichtig hinaus zu lugen. Als ich mich unbeobachtet fühlte, kletterte ich hinaus und entfernte mich ein Stück vom Lager. Die frische Nachtluft und die Bewegung taten gut. Bis auf ein leises Knacken in den Büschen war es komplett still. Ich brauchte die Ruhe und Einsamkeit. Die Menschen waren mir alle fremd.
Das nasse Gras raschelte sanft unter meinen Füßen. Gab es eben solches Gras im Süden? Wurden die Pflanzen in der Nacht dort ebenfalls mit einer dünnen Tauschicht überzogen?
Neben einem einzelnen Baum blieb ich stehen und blickte wehmütig über die vom Mond erhellte Landschaft. Das hier war meine Heimat. Wann würde ich es wieder sehen?

Mein Blick richtete sich nach Norden, die Straße zurück. Irgendwo dort, zwei Tagesritte zurück, lag Schneewacht. Dort waren meine Eltern, meine Brüder, meine Freunde. Und ich, ich war hier, alleine und einsam.
Langsam krochen mir die Tränen in die Augen. "Ich will doch nur heim..."
"Wer ist da?!"
Erschrocken fuhr ich herum zu der prüden Stimme, die da gesprochen hatte.  



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